Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Nicht jedes Wort oder Werk rechtlichen Inhalts 
ist Gesetzgebung; damit ein Wort oder Werk Gesetz 
werde, muß es von einem gesprochen oder be- 
tätigt sein, der vom Recht die Macht erhalten hat, 
Gesetze zu schaffen, Subjekt der Gesetzgebung zu 
sein. Wem diese Macht zukommt, bestimmt das 
Recht der Gemeinschaft, für die das Gesetz Geltung 
haben soll. Für die Zivilgesetzgebung Deutsch- 
lands kommen als Rechtsgemeinschaften das Reich 
und die Einzelstaaten in Betracht; es ist daher 
zwischen Reichs= und Landesgesetzgebung zu unter- 
scheiden. Das Verhältnis beider zueinander ist 
durch die Reichsverfassung Art. 2 dahin geregelt, 
daß die Reichsgesetzgebung der Landesgesetzgebung 
vorgeht. Gesetze sind die von den verfassungs- 
mäßig berufenen Organen des Deutschen Reichs 
oder eines Einzelstaats in verfassungsmäßiger 
Weise festgestellten und verkündeten Rechtsvor- 
schriften. Für Gesetze des Deutschen Reichs sind 
durch die Reichsverfassung als Organe der Reichs- 
tag und der Bundesrat berufen. Dem überein- 
stimmenden Beschluß beider hat der Bundesrat 
die Gesetzeskrast (Sanktion) zu erteilen, worauf 
seine Ausfertigung und Bekanntmachung in dem 
Reichsgesetzblatt durch den Kaiser erfolgt. Für die 
Landesgesetze der deutschen Einzelstaaten sind die 
Voraussetzungen in den Landesverfassungen ge- 
regelt. Soweit nach der Reichs= oder Landes- 
verfassung Rechtsvorschriften durch ein anderes 
Organ als das allgemein zur Gesetzgebung be- 
rufene erlassen werden können (Kaiser, Bundesrat, 
Landesherr, Minister), sind auch deren Verord- 
nungen Gesetze. Daher fallen die in Staatsver- 
trägen durch die berufenen Organe festgestellten 
Rechtsvorschriften gleichfalls unter den Gesetzes- 
begriff. Nach deutschen Landesrechten steht auch 
engeren örtlichen oder Personen-Verbänden für 
gewisse ihnen eigentümliche Verhältnisse die Gesetz- 
gebung zu (Autonomie); das Reichsrecht hat für 
die landesherrlichen Häuser, zu denen Hannover, 
Kurhessen, Nassau und Schleswig-Holstein ge- 
hören, und für die fürstliche Familie Hohenzollern 
ihre autonomen Statuten gewährleistet. Die 
Autonomie schafft Recht nicht nur für die An- 
gehörigen des Verbands, sondern auch gegenüber 
Dritten. 
Gewohnheitsrecht sind die Rechtssätze, 
welche für eine Rechtsgemeinschaft durch eine 
dauernd wiederholte, offene und gleichförmige 
Übung ihres Inhalts entstanden sind. Für die 
Übung läßt sich eine Raum-, Zahl= und Zeit- 
grenze nicht geben. Insbesondere ist, damit ein 
Gewohnheitsrechtssatz in einem ganzen Land gelte, 
nicht notwendig, daß er in allen Orten als ein 
stets geübter nachweisbar sei. Sobald vielmehr die 
demselben zugrunde liegende Rechtsanschauung 
den Rechtssatz als einen allgemein gültigen auf- 
faßt, genügt es, wenn er nur in so vielen Bezirken 
zutage tritt, daß ein Schluß auf die Existenz der 
gleichen Rechtsanschauung im Gebiet des ganzen 
Gemeinwesens gerechtfertigt ist. Auchiist nicht not- 
Zivilgesetzgebung. 
  
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wendig, daß der Rechtssatz in das Bewußtsein 
aller Volkskreise eingedrungen sei. Ein in einem 
bestimmten Personenkreis nachweisbarer Rechts- 
satz kann vielmehr als Recht des ganzen Gemein- 
wesens erscheinen, was namentlich bei denjenigen 
Rechtssätzen der Fall ist, welche durch die gericht- 
liche Praxis ihre Gestaltung erhalten. Dabei ist 
zu beachten, daß Gewohnheiten nicht nur auf 
räumlicher Basis, sondern auch auf der Grund- 
lage persönlicher Beziehungen geübt werden und 
Gewohnheitsrechte nicht nur für ein Gemeinwesen, 
sondern auch über ein Gemeinwesen hinaus und 
innerhalb eines solchen für räumliche Teile des- 
selben und für Personenkreise entstehen können, 
wie Gewohnheitsrechtsbildungen über ein Gemein- 
wesen hinaus namentlich durch Rezeption seitens 
des die Gewohnheiten annehmenden anderweiten 
Gemeinwesens erfolgen. Für lokale Gewohnheiten 
und Gewohnheiten von Berufsständen haben wir 
die Bezeichnung Herkommen. Der Ausdruck wird 
allerdings auch zur Bezeichnung von auf Verein- 
barung oder Verjährung beruhenden Rechtsver- 
hältnissen gebraucht. Und die Gewohnheiten ein- 
zelner Familien des hohen Adels oder bestimmter 
Lebenskreise werden vielfach Observanzen genannt. 
Diese Bezeichnungen sind mithin schwankend. 
Die Ubung des Rechtssatzes ist im Einzelfall 
unmittelbar oder mittelbar festzustellen, d. h. der 
Richter kann entweder die einzelnen Geschäfte er- 
forschen und darauf prüfen, ob sie offen, fortgesetzt 
und gleichförmig geübt worden sind und auf einen 
Rechtssatz schließen lassen, oder er kann die allge- 
meine Anerkennung eines Rechtssatzes ermitteln, 
dessen Geltung bei der Vornahme solcher Geschäfte 
vorausgesetzt wird. Die Erforschung des Gewohn- 
heitsrechts ist eine Aufgabe und eine Pflicht des 
Richters, der das von ihm anzuwendende Ge- 
wohnheitsrecht nicht minder kennen muß wie das 
Gesetzesrecht. Die Beweisanerbietungen der strei- 
tenden Parteien bilden für ihn weder Schranke 
noch Grenze, sie sind ihm nur eine Beihilfe bei 
der ihm amtlich obliegenden Gewohnheitsrechts- 
ermittlung. In betreff der Erkenntniemittel findet 
keinerlei Beschränkung statt; die geläufigeren sind: 
Gutachten Sachverständiger, frühere Urteile über 
gleichliegende Fälle, Urkunden, glaubwürdige Auf- 
zeichnungen in der Literatur, Berichte und Zeug- 
nisse von Behörden, Zeugenaussagen, auch solche 
über Hörensagen, Eideszuschiebungen über Tat- 
sachen, selbst Rechtssprichwörter, sogar in humo- 
ristischer Form, sofern sie wirkliche Rechtssätze aus- 
sprechen und nicht bloß Volkssitten bekunden. 
Aus der prinzipiell gleichen Kraft und Gültig- 
keit des Gewohnheits= und Gesetzesrechts folgt, 
daß das Gewohnheitsrecht das Gesetzesrecht auf- 
heben und abändern, aber auch, daß das Gesetz 
durch Vorschriften über die Voraussetzungen, den 
Umfang und die Wirkungen künftig sich bildenden 
Gewohnheitsrechts dessen Bildung erschweren kann. 
Solange ein solches Gesetz besteht, kann nur die- 
jenige Ubung als Gewohnheitsrecht gelten, bei 
 
	        
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