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Nicht jedes Wort oder Werk rechtlichen Inhalts
ist Gesetzgebung; damit ein Wort oder Werk Gesetz
werde, muß es von einem gesprochen oder be-
tätigt sein, der vom Recht die Macht erhalten hat,
Gesetze zu schaffen, Subjekt der Gesetzgebung zu
sein. Wem diese Macht zukommt, bestimmt das
Recht der Gemeinschaft, für die das Gesetz Geltung
haben soll. Für die Zivilgesetzgebung Deutsch-
lands kommen als Rechtsgemeinschaften das Reich
und die Einzelstaaten in Betracht; es ist daher
zwischen Reichs= und Landesgesetzgebung zu unter-
scheiden. Das Verhältnis beider zueinander ist
durch die Reichsverfassung Art. 2 dahin geregelt,
daß die Reichsgesetzgebung der Landesgesetzgebung
vorgeht. Gesetze sind die von den verfassungs-
mäßig berufenen Organen des Deutschen Reichs
oder eines Einzelstaats in verfassungsmäßiger
Weise festgestellten und verkündeten Rechtsvor-
schriften. Für Gesetze des Deutschen Reichs sind
durch die Reichsverfassung als Organe der Reichs-
tag und der Bundesrat berufen. Dem überein-
stimmenden Beschluß beider hat der Bundesrat
die Gesetzeskrast (Sanktion) zu erteilen, worauf
seine Ausfertigung und Bekanntmachung in dem
Reichsgesetzblatt durch den Kaiser erfolgt. Für die
Landesgesetze der deutschen Einzelstaaten sind die
Voraussetzungen in den Landesverfassungen ge-
regelt. Soweit nach der Reichs= oder Landes-
verfassung Rechtsvorschriften durch ein anderes
Organ als das allgemein zur Gesetzgebung be-
rufene erlassen werden können (Kaiser, Bundesrat,
Landesherr, Minister), sind auch deren Verord-
nungen Gesetze. Daher fallen die in Staatsver-
trägen durch die berufenen Organe festgestellten
Rechtsvorschriften gleichfalls unter den Gesetzes-
begriff. Nach deutschen Landesrechten steht auch
engeren örtlichen oder Personen-Verbänden für
gewisse ihnen eigentümliche Verhältnisse die Gesetz-
gebung zu (Autonomie); das Reichsrecht hat für
die landesherrlichen Häuser, zu denen Hannover,
Kurhessen, Nassau und Schleswig-Holstein ge-
hören, und für die fürstliche Familie Hohenzollern
ihre autonomen Statuten gewährleistet. Die
Autonomie schafft Recht nicht nur für die An-
gehörigen des Verbands, sondern auch gegenüber
Dritten.
Gewohnheitsrecht sind die Rechtssätze,
welche für eine Rechtsgemeinschaft durch eine
dauernd wiederholte, offene und gleichförmige
Übung ihres Inhalts entstanden sind. Für die
Übung läßt sich eine Raum-, Zahl= und Zeit-
grenze nicht geben. Insbesondere ist, damit ein
Gewohnheitsrechtssatz in einem ganzen Land gelte,
nicht notwendig, daß er in allen Orten als ein
stets geübter nachweisbar sei. Sobald vielmehr die
demselben zugrunde liegende Rechtsanschauung
den Rechtssatz als einen allgemein gültigen auf-
faßt, genügt es, wenn er nur in so vielen Bezirken
zutage tritt, daß ein Schluß auf die Existenz der
gleichen Rechtsanschauung im Gebiet des ganzen
Gemeinwesens gerechtfertigt ist. Auchiist nicht not-
Zivilgesetzgebung.
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wendig, daß der Rechtssatz in das Bewußtsein
aller Volkskreise eingedrungen sei. Ein in einem
bestimmten Personenkreis nachweisbarer Rechts-
satz kann vielmehr als Recht des ganzen Gemein-
wesens erscheinen, was namentlich bei denjenigen
Rechtssätzen der Fall ist, welche durch die gericht-
liche Praxis ihre Gestaltung erhalten. Dabei ist
zu beachten, daß Gewohnheiten nicht nur auf
räumlicher Basis, sondern auch auf der Grund-
lage persönlicher Beziehungen geübt werden und
Gewohnheitsrechte nicht nur für ein Gemeinwesen,
sondern auch über ein Gemeinwesen hinaus und
innerhalb eines solchen für räumliche Teile des-
selben und für Personenkreise entstehen können,
wie Gewohnheitsrechtsbildungen über ein Gemein-
wesen hinaus namentlich durch Rezeption seitens
des die Gewohnheiten annehmenden anderweiten
Gemeinwesens erfolgen. Für lokale Gewohnheiten
und Gewohnheiten von Berufsständen haben wir
die Bezeichnung Herkommen. Der Ausdruck wird
allerdings auch zur Bezeichnung von auf Verein-
barung oder Verjährung beruhenden Rechtsver-
hältnissen gebraucht. Und die Gewohnheiten ein-
zelner Familien des hohen Adels oder bestimmter
Lebenskreise werden vielfach Observanzen genannt.
Diese Bezeichnungen sind mithin schwankend.
Die Ubung des Rechtssatzes ist im Einzelfall
unmittelbar oder mittelbar festzustellen, d. h. der
Richter kann entweder die einzelnen Geschäfte er-
forschen und darauf prüfen, ob sie offen, fortgesetzt
und gleichförmig geübt worden sind und auf einen
Rechtssatz schließen lassen, oder er kann die allge-
meine Anerkennung eines Rechtssatzes ermitteln,
dessen Geltung bei der Vornahme solcher Geschäfte
vorausgesetzt wird. Die Erforschung des Gewohn-
heitsrechts ist eine Aufgabe und eine Pflicht des
Richters, der das von ihm anzuwendende Ge-
wohnheitsrecht nicht minder kennen muß wie das
Gesetzesrecht. Die Beweisanerbietungen der strei-
tenden Parteien bilden für ihn weder Schranke
noch Grenze, sie sind ihm nur eine Beihilfe bei
der ihm amtlich obliegenden Gewohnheitsrechts-
ermittlung. In betreff der Erkenntniemittel findet
keinerlei Beschränkung statt; die geläufigeren sind:
Gutachten Sachverständiger, frühere Urteile über
gleichliegende Fälle, Urkunden, glaubwürdige Auf-
zeichnungen in der Literatur, Berichte und Zeug-
nisse von Behörden, Zeugenaussagen, auch solche
über Hörensagen, Eideszuschiebungen über Tat-
sachen, selbst Rechtssprichwörter, sogar in humo-
ristischer Form, sofern sie wirkliche Rechtssätze aus-
sprechen und nicht bloß Volkssitten bekunden.
Aus der prinzipiell gleichen Kraft und Gültig-
keit des Gewohnheits= und Gesetzesrechts folgt,
daß das Gewohnheitsrecht das Gesetzesrecht auf-
heben und abändern, aber auch, daß das Gesetz
durch Vorschriften über die Voraussetzungen, den
Umfang und die Wirkungen künftig sich bildenden
Gewohnheitsrechts dessen Bildung erschweren kann.
Solange ein solches Gesetz besteht, kann nur die-
jenige Ubung als Gewohnheitsrecht gelten, bei