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welcher diese Vorschriften vorliegen. Versagt ein
Gesetz dem Gewohnheitsrecht jede Bedeutung, so
hat dieses Gesetz Gültigkeit, und es kann während
seines Bestehens keine einzelne Gewohnheit im Fall
des Bestreitens als Gewohnheitsrecht anerkannt
werden, wenn sie auch noch so andauernd und
gleichmäßig festgehalten worden wäre. Es kann
sich aber eine Gewohnheit dahin bilden, daß sie
das ihre Zulassung ausschließende oder beschrän-
kende Gesetz außer Wirksamkeit setzt. Eine solche
Gewohnheit wird sich um so seltener bilden, je um-
fassender, vollständiger ein Gesetzbuch ist und je
breiter dasselbe auf den Rechtsüberzeugungen der
Gegenwart beruht und diese wiedergibt. Versagt
jedoch den neu entstehenden Bedürfnissen gegen-
über das Gesetz, so wird die Gewohnheit sich aller
Verbote ungeachtet wirksam erweisen, und es wird
in jüngeren Werken das ältere Wort derogiert
werden. Denn der gegenwärtige Gesetzgeber kann
weder sich selbst noch den zukünftigen in der Frei-
heit und Abänderlichkeit des Willens beschränken.
Ubrigens zeigt das heutige England, daß das
Recht auch eines hochentwickelten Volks vollständig
und einheitlich durch Gewohnheiten (common
law) gestaltet werden kann.
Der Reichsgesetzen kann durch künftige partiku-
läre Gewohnheiten nicht derogiert werden. Es gibt
mithin gegen sie nicht preußische, bayrische usw.
Gewohnheitsrechtssätze. Art. 2 der Verfassungs-
urkunde hat diesen Sinn. Er gestattet dagegen,
daß Reichsgesetze durch Reichsgewohnheiten ab-
geändert oder aufgehoben werden, doch wird das
Entstehen von Reichsgewohnheiten bei der Aus-
dehnung des Reichs selten sein. In den deutschen
Einzelstaaten kann Gewohnheitsrecht sich nicht
gegen die Verfassungsvorschriften sowie gegen die-
jenigen Vorschriften des privaten und öffentlichen
Rechts bilden, welche aus öffentlich-rechtlichen
Gründen oder wegen unserer Kulturverhältnisse
keine Abänderung ertragen.
Andere Rechtsquellen im Sinn von Rechts-
entstehungsursachen als Gesetz und Gewohnheit
gibt es nicht. Insbesondere ist die Rechts-
analogie eine solche Quelle nicht. Dieselbe
besteht in der entsprechenden Anwendung der durch
Gesetz oder Gewohnheiten für bestimmte Verhält-
nisse gegebenen Vorschriften auf rechtsähnliche Ver-
hältnisse, für welche die Gesetzgebung keine Vor-
schriften enthält, bzw. in Ermanglung jener Vor-
schriften in der Anwendung der aus dem Geist der
Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätze auf die
ungeregelten Verhältnisse. Daraus folgt, daß der
analoge Rechtssatz immer einen Rechtssatz voraus-
setzt, zu dem er analog ist; infolgedessen teilt er
die Natur dieses Rechtssatzes und gehört mit ihm
entweder dem Gesetzesrecht oder dem Gewohnheits-
recht an. Wo die Analogie Rechtsquelle genannt
wird, ist dieser Ausdruck in einem andern Sinn
als dem der Rechtsentstehungsursache verwendet;
er spricht dann aus, daß die Eigenschaft eines
Satzes, analog einem Rechtssatz zu sein, diesem
Zivilgesetzgebung.
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Satz selbst die Kraft eines Rechtssatzes verleiht.
„Rechtsquelle in diesem Sinn ist also die Tatsache,
kraft deren ein Satz die Natur eines Rechtssatzes
hat“, nicht die Gesetzgebung (Zitelmann, Das
Recht des B.G.B. 9).
Die Aufzählung der einzelnen Werke der Zivil-
gesetzgebung hat billigerweise mit der gesetzgebenden
Tätigkeit jenes Weltreichs zu beginnen, dessen
Gesetze heute noch, entweder überarbeitet oder selbst
in der ursprünglichen Form, in einem großen
Teil des zivilisierten Europa und in den von
diesem beeinflußten überseeischen Ländern Geltung
haben, nämlich Roms. Der Grund dieser in
hohem Grad auffallenden Tatsache ist sowohl
in der logischen Durchbildung und der inneren
Vorzüglichkeit dieses Rechts als auch in der zu-
fälligen historischen Entwicklung zu finden. Die
gesetzgebende Gewalt war bei den Römern keine
einheitliche, vielmehr je nach den verschiedenen
Zeitabschnitten sogar eine grundverschiedene, und
ebenso verschieden war natürlich auch die Form
ihrer Ausübung. Die Römer kennen sog. leges
oder plebiscita, von dem römischen Volk selbst
in dessen Versammlungen (Komitien) erlassene
Gesetze in des Wortes eigenster Bedeutung. Neben
diesen kamen vor senatusconsulta, Senats-
beschlüsse über einzelne Rechtsstoffe. Die Volks-
beschlüsse dauerten fort bis in die Zeit der ersten
Kaiser, während die Senatsbeschlüsse von den
Kaisern noch etwas länger geduldet wurden, um
den Schein republikanischer Einrichtungen zu
wahren, die in Wirklichkeit, da die Senate den
Kaisern unbedingt zur Verfügung standen, längst
aufgehört hatten. Daher stützt sich das Recht der
Kaiserzeit wesentlich auf Senatsbeschlüsse; erst
unter der Regierung der Severe und Dieokletians
wurden diese verdrängt durch das eigentliche
Kaiserrecht, die kaiserlichen Konstitutionen. Neben
den Volksbeschlüssen und den Senatsbeschlüssen
bestanden noch die sog. Edikte des Prätors, Rechts-
sätze, welche diese Beamten bei Beginn ihrer Amts-
zeit als Norm für die von ihnen ausgehende
Rechtsprechung zu veröffentlichen pflegten und
welche den Zweck hatten, das oft strenge und
starre eigentliche Zivilrecht mit den Forderungen
der Billigkeit zu vereinigen. Diese sog. prätorischen
Edikte hörten unter Hadrian auf, unter dessen
Regierung der Prätor Salvius Julianus einen
Auszug aus allen früheren Edikten unter dem
Namen Edictum perpetuum veröffentlichte, an
welchem eine Veränderung nicht mehr vorgenom-
men werden durfte. Eine eigentümliche Erschei-
nungsform der römischen Rechtsbildung zeigte sich
in dem sog. Juristenrecht, von Kaiser Augustus
dadurch eingeführt, daß er verschiedenen aus-
gezeichneten Juristen das sog. ins respondendi
verlieh. Dieses Recht bestand darin, daß, wenn
die responsa der mit diesem Recht beliehenen
Rechtsgelehrten (prudentum) auf eine ihnen über
eine Rechtsfrage zugekommene Ansicht einstimmig
ausfielen, sie die Kraft eines Gesetzes hatten.