Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Allgemeiner Gerichtsordnung vom 6. Juli 1793. 
Die Reformversuche der übrigen deutschen Staaten 
aeden sich auf dem Boden des gemeinen Pro- 
zesses. 
Für das gemeinrechtliche Prozeßverfahren galt 
der Grundsatz der Parteiherrschaft, nach welchem 
die Parteien über Beginn, Inhalt und Fort- 
führung des Rechtsstreits ausschließlich zu ent- 
scheiden haben. Um aber dem Prozeß Sicherheit 
und Ordnung und der Urteilsfällung eine in den 
Akten festgebettete Unterlage zu geben, war die 
Schriftlichkeit des Verfahrens derart zur 
Grundmaxime des Prozesses erhoben, daß die 
Parteischriften und die Verhandlungsprotokolle 
die unveränderbare Grundlage der Entscheidung 
bildeten. Eine formale Beweistheorie sollte richter- 
liche Willkür verhindern, eine strenge Gliederung 
des Verfahrens in stofflich geschiedene präklusivische 
Abschnitte (Prinzip der Beweistrennung, rechts- 
kräftiges Beweisinterlokut) die Parteien zur Zu- 
sammenfassung und Ordnung des Streitstoffs 
zwingen. Jeder Schriftsatz hatte seinen bestimmten 
Inhalt und selbst für diesen eine bestimmte Reihen- 
folge (Eventualmaxime). Infolge dieses Zwangs 
entbehrte das Verfahren der Natürlichkeit, Ein- 
fachheit und Verständlichkeit. Die Schriftsätze 
machten dasselbe uneinheitlich und schleppend und 
entzogen den in den Akten ruhenden Streitstoff der 
Offentlichkeit. Je ausgebildeter das Ver- 
fahren wurde, um so fremder wurde dasselbe der 
Bevölkerung. Diese wendete sich immer mehr von 
dem heimlichen, schriftlichen Prozeß ab und ver- 
langte immer lauter nach einem rascheren, münd- 
lichen und öffentlichen Rechtspflegeverfahren. Einen 
neuen mächtigen Impuls erhielten diese Bestre- 
bungen durch die politische Bewegung des Jahrs 
1848, welche zugleich auf das Vorbild Frankreichs 
als des nachzustrebenden Musters hinwies, dessen 
Code de procédure in Rheinpreußen, Rhein- 
hessen, Baden und der bayrischen Pfalz in unver- 
änderter Geltung war. 
Der französische Prozeß beruht auf der 
Verteilung von Recht und Faktum zwischen Ge- 
richt und Parteien. Der Prozeßbetrieb liegt in 
den Händen der Parteien. Die Einleitung der 
mündlichen Verhandlung erfolgt dadurch, daß die 
Anwälte ihre motivierten Konklusionen (Gesuche 
und deren Begründung) verlesen und dieselben bei 
dem Gericht hinterlegen. Im Lauf der Verhand- 
lung können die Anwälte ihre Konklusionen 
ändern, müssen aber die Abänderungen schriftlich 
zum Sitzungsprotokoll überreichen. Das Verlesen 
der motivierten Konklusionen macht den Rechts- 
streit derart kontradiktorisch, daß von nun ab kein 
Versäumnisurteil ergehen kann, auch wenn der 
Anwalt in der zur mündlichen Verhandlung der 
Sache bestimmten Sitzung nicht erscheint. Die 
Sache erscheint mit diesem Akt aber auch zur Ent- 
scheidung reif (en état), so daß die Urteilsfällung 
durch eine in der Zwischenzeit in der Person der 
Partei oder ihres Anwalts eintretende Anderung 
Zivilprozeß. 
  
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nicht gehindert wird. Den von den Parteien vor- 
getragenen Streitstoff prüft der Richter, um nach 
Feststellung des streitig Gebliebenen durch Beweis 
Recht zu finden. Die Tätigkeit des Richters ist die 
richterliche Funktion in ihrer Reinheit, die 
urteilende. Der Code de procédure von 1806 
ist bezüglich der Zuständigkeit und Organisation 
der Friedensgerichte geändert durch Gesetz vom 
12. Juli 1905. 
Von dem französischen Verfahren verschieden 
ist der englische Prozeß, welcher für das Ver- 
fahren vor der Supreme Court 1883 neu ge- 
regelt worden ist (Schuster, Rechtspflege in Eng- 
land). Er zerfällt in zwei Hauptabschnitte: die 
schriftliche Stofffsammlung und die mündliche 
Sachentscheidung. Die zur Prozeßladung (writ 
of summons) bestimmte Klageschrift muß den 
Klageanspruch und alle denselben begründenden 
Tatsachen enthalten. Die Verteidigungsschrift muß 
sich über die vorgetragenen Tatsachen erklären und 
alle Einreden vorbringen, da nicht bestrittene Tat- 
sachen als zugestanden gelten. Replik und Duplik 
äußern sich über die Behauptungen des vorher- 
gegangenen Schriftsatzes. Es gilt die Eventual- 
maxime. Die Vermittlung der Schriftsätze erfolgt 
durch das Gericht. Bleiben im Schriftenwechsel 
Tatsachen oder Rechtssätze unter den Parteien 
streitig, so bringt die eifrigere Partei den Rechts- 
streit zur mündlichen Verhandlung (trial); jede 
Partei benennt erst in dieser ihre Beweismittel, 
und auf Grund der Beweisführung erfolgt die 
Entscheidung, welche nur die schriftlich von den 
Parteien vorgebrachten Angriffs= und Verteidi- 
gungemittel berücksichtigen darf. Eine Abänderung 
der Schriftsätze kann jedoch in jedem Prozeß- 
stadium, also auch in der mündlichen Verhand- 
lung, vom Richter genehmigt werden. Die Beweis- 
aufnahme soll regelmäßig in der Hauptverhand- 
lung stattfinden. Beweisregeln existieren nicht. 
Das Verfahren ist im allgemeinen von der Ver- 
handlungsmaxime und dem Grundsatz der Un- 
mittelbarkeit beherrscht; die mündliche Verhandlung 
ist öffentlich. Das Verfahren ist im wesentlichen 
gleich vor den Grafsschaftsgerichten (County 
Courts) und der High Court of Justice, vor 
dem Richter und vor der Jury, nur fällt in letz- 
terem Fall die Jury das Verdikt über die Tat- 
fragen, der Richter das Urteil über die Rechts- 
fragen, während im Verfahren vor dem Richter 
dieser sowohl das Verdikt als das Urteil abgibt. 
Zulässig ist für einzelne Fälle die Verweisung des 
Rechtsstreits an einen Spezialrichter (Referee), 
sei es zur Untersuchung und zum Bericht oder zur 
Verhandlung von Tatfragen, sei es zur Verhand- 
lung des ganzen Rechtsstreits. — Im englischen 
und französischen Prozeßrecht tritt die hohe Be- 
deutung des kanonischen Prozesses hervor. 
Von diesen Vorbildern unabhängig machte 
Hannover 1850 den Versuch, unter Festhaltung 
an dem gemeinen deutschen Prozeß an die Stelle 
der Schriftlichkeit seines Verfahrens das Prinzip
	        
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