Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Ver- 
handlung zu setzen und die Eventualmaxime zu 
beseitigen. Das hannoversche Verfahren zerfiel in 
zwei Abschnitte, welche durch eine richterliche 
Verfügung gegeneinander abgeschlossen wurden, 
in welcher nach Prüfung des von den Parteien 
vorgelegten Prozeßstoffes diesen eröffnet wurde, 
was und von wem zu bemeisen sei. Dieses Be- 
weisinterlokut war unabänderlich für die Instanz, 
in welcher es erlassen wurde. Für Deutschland ist 
der Zivilprozeß durch das Gerichtsverfassungs- 
gesetz und die Zivilprozeßordnung von 1877, neu 
gefaßt am 20. Mai 1898, neu und einheitlich ge- 
regelt. Dazu kommen die Novellen vom 5. Juni 
1905, 1. Juni 1909 und 22. Mai 1910. Oster- 
reich hat sein Verfahren neu geregelt durch die 
Zivilprozeßordnung vom 1. Aug. 1895, die 
Jurisdiktionsnorm von demselben Tag und die 
Exekutionsordnung vom 27. Mai 1896. 
Das Prozeßverfahren der deutschen Zivilprozeß- 
ordnung beruht auf folgender einfachen Regel. 
Eine richterliche Entscheidung kann nur auf Grund 
einer den ganzen Streitstoff umfassenden, münd- 
lichen, öffentlichen Verhandlung ergehen. Wer eine 
solche Entscheidung erwirken will, hat die Gegen- 
partei in eine bestimmte, vom Vorsitzenden des Ge- 
richts bezeichnete Sitzung laden zu lassen, und zwar 
mittels Zustellung eines Schriftsatzes, der Klage, 
in welchem die Gegenpartei von dem in der Sitzung 
zu stellenden Prozeßgesuch, dem Gegenstand und 
dem Grund des erhobenen Anspruchs, sowie den 
Beweismitteln für denselben in Kenntnis gesetzt 
wird. Die Zustellung dieses Schriftsatzes begründet 
die Rechtshängigkeit der Streitsache. Vor 
dem Termin zur mündlichen Verhandlung hat die 
Gegenpartei der ladenden Partei ihre Gegen- 
erklärung über die behaupteten Tatsachen und die 
Beweismittel zuzustellen und derselben zugleich 
mitzuteilen, ob und welche Tatsachen und Beweis- 
mittel sie gegen das Klagegesuch in der mündlichen 
Verhandlung vorzubringen beabsichtige. Der 
Schriftenwechsel unter den Parteien ist für 
das Urteil des Gerichts über die Streitsache von 
unmaßgeblicher Bedeutung. Er dient der Stoff- 
sammlung sowie der Ermittlung und Prüfung der 
Frage, ob der Prozeßgegner überhaupt verpflichtet 
sei, sich auf die Klage einzulassen, sowie der wei- 
teren Ermittlung des Stands der Streitsache. 
Einen selbständigen Prozeßabschnitt bildet dieses 
schriftliche Vorverfahren nicht. Es kann ganz fehlen. 
Die Sachverhandlung und Sachentscheidung ist 
ausschließlich Gegenstand dermündlichen Ver- 
handlung. Diese wird vom Vorsitzenden des 
Gerichts eröffnet und dadurch eingeleitet, daß 
beide Parteien ihre Anträge aus den Schriftsätzen 
verlesen oder mündlich stellen. Alsdann steht den- 
selben frei, Rechtsbehelfe jeder Art, insbesondere 
Einreden, Repliken, Dupliken, Widerklagen und 
Beweise wie beim Beginn, so auch im ganzen 
weiteren Verlauf der mündlichen Verhandlung bis 
zum Erlaß des Endurteils vorzubringen. Prozeß- 
  
  
Zivilprozeß. 
  
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hindernde Einreden sind bei Gefahr des Verlustes 
vor der Verhandlung zur Hauptsache vorzubringen. 
Die mündliche Verhandlung ist als ein einziger 
Akt anzusehen, auch wenn sie in mehrere äußerlich 
und zeitlich getrennte Verhandlungen zerfällt. Mit 
ihren Behauptungen haben die Parteien die Be- 
weise zu benennen und die Erklärung über die 
vom Gegner angegebenen Beweismittel abzugeben. 
Die nun ergehende richterliche Entscheidung ist, 
wenn die Streitsache zur Endentscheidung reif ist, 
das Urteil, sonst eine prozeßleitende Verfügung, 
gewöhnlich ein Beweisbeschluß, der wieder- 
holt werden kann. Der Beweis soll vor dem er- 
kennenden Gericht in öffentlicher Sitzung erhoben 
werden; doch ist auch gestattet, ein einzelnes Mit- 
glied des Gerichts oder eines andern Gerichts mit 
der Beweiserhebung zu beauftragen. Die gesetz- 
lichen Beweisregeln sind beseitigt. Das Gericht 
hat nach erledigtem Beweisbeschluß in einer neuen 
mündlichen Verhandlung, welche prinzipiell den 
ganzen Streitstoff enthalten muß und in welcher 
neuer Prozeßstoff in Abwehr und Angriff nach- 
getragen werden kann, die Endentscheidung mittels 
Urteils zu erlassen. Durch dieses sind alle noch 
in Betracht kommenden Einzelstreitfragen gleich- 
zeitig und einheitlich zu erledigen. Dasselbe gilt, 
wenn von mehreren zum Zweck gleichzeitiger Ver- 
handlung und Entscheidung verbundenen Pro- 
zessen nur der eine zur Endentscheidung reif ist. 
Zugelassen sind Teilurteile, d. h. Endentscheidungen 
über Teile des Streitgegenstandes, sowie Zwischen- 
urteile, durch welche einzelne selbständige Angriffs- 
oder Verteidigungsmittel oder Zwischenstreitig- 
keiten erledigt werden. An das Endurteil schließt 
sich das Rechtsmittelverfahren an mit neuer 
Verhandlung des Rechtsstreites innerhalb der 
Parteianträge in der Berufungsinstanz. Dem ver- 
urteilenden Erkenntnis folgt auf Parteibetrieb das 
Zwangsvollstreckungsverfahren. 
Die Zivilprozeßordnung kennt neben dem in 
seinen einzelnen Vorgängen skizzierten ordentlichen 
Prozeßverfahren, welches infolge des Anwalt= 
zwangs beim landgerichtlichen Verfahren in Einzel- 
heiten verschieden ist für das Verfahren vor den 
Landgerichten und für das Verfahren vor den 
Amtsgerichten, noch die besondern Prozeßarten 
für den Urkunden= und Wechselprozeß sowie für 
den Eheprozeß; sie regelt ferner das Aufgebots- 
und Entmündigungsverfahren, das Mahn., 
Sühne= und Schiedsverfahren. Durch die Novelle 
vom 1. Juni 1909 ist im amtsgerichtlichen Ver- 
fahren die Prozeßleitung des Richters verstärkt 
worden. 
II. Ein großer Fortschritt der deutschen Zivil- 
prozeßordnung liegt in der Durchführung der 
Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittel- 
barkeit der Verhandlung, in ihrer Anpassungs= 
fähigkeit an die Individualität des Falls und 
ihrer leichten Beweglichkeit, „welche in den zahl- 
reichen fakulkativen Vorschriften, in der breiten 
Zulassung des richterlichen Ermessens in Prozeß- 
 
	        
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