Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sind nicht zurechnungsfähig. Jedes Wesen hin- 
gegen, das mit freiem Willensvermögen aus- 
gestattet und von diesem Gebrauch zu machen im- 
stand ist, ist damit auch zurechnungsfähig. Leugnet 
man im Menschen den freien Willen, nimmt man, 
um die Existenz einer geistigen Seele, deren Fort- 
dauer nach dem Tod, und was sich weiter an die 
Lehre von der Unsterblichkeit knüpft, leugnen zu 
können, an, daß das, was wir freien Willen 
nennen, nichts anderes sei als eine Kombination 
materieller Körperteile und Kräfte, so kann man 
auch bei Menschen ebensowenig als bei Tieren und 
allen leblosen Wesen von Zurechnungsfähigkeit 
sprechen; es bleibt dann nur die Ursächlichkeit 
übrig. Man zollt demnach, indem man einen 
wesentlichen Unterschied zwischen der bloßen Ur- 
sächlichkeit und der Zurechnungsfähigkeit annimmt, 
der Willensfreiheit des Menschen und damit der 
Existenz einer geistigen Seele, wenn auch oft 
unbewußt und unfreiwillig, den Tribut der An- 
erkennung. 
Zum Vorhandensein der Zurechnungsfähigkeit 
wird demnach alles das, aber auch nur das er- 
fordert, was zum freien Willen und zu dessen 
Gebrauch gehört. Es muß ein freies Willens- 
vermögen da sein und die Möglichkeit, dieses 
Vermögen im einzelnen Fall frei zu betätigen, im 
einzelnen also: 1) das Vermögen, sich zwischen 
zwei Handlungen oder Gegenständen aus sich zu 
entscheiden; Freiheit isteben Wahlfreiheit. Darum 
wird dann 2) weiter erfordert die Erkenntnis jener 
Handlungen oder Dinge, zwischen denen sich 
wählen läßt, d. h. ein größeres oder geringeres 
Maß von Erkenntnis der Vorzüge und der Nach- 
teile des einen oder andern, oder überhaupt die 
Erkenntnis der Gründe, die man hat, sich für das 
eine oder andere zu entscheiden. Diese Erkenntnis 
ist einerseits durchaus notwendig zur Wahlfrei- 
heit, da das Nichterkannte auch nicht gewollt wer- 
den kann (nihil volitum nisi cognitum); sie 
bildet anderseits aber auch nur eine Vorbedingung 
der Wahlfreiheit, macht diese selbst noch nicht aus. 
Es muß noch die Fähigkeit vorhanden sein, nach 
der Erkenntnis, und zwar nach der vollen Er- 
kenntnis der einzelnen Gegenstände für den einen 
wie für den andern sich entscheiden zu können, also 
mit keiner Art von Notwendigkeit einen derselben 
wählen zu müssen, wenngleich viel bessere und viel 
stärkere Gründe für den einen als für den andern 
sprechen mögen. Endlich wird 3) zur Zurechnungs- 
fähigkeit verlangt, daß die Tätigkeit des freien 
Willensvermögens nicht durch irgend welche Hin- 
dernisse unmöglich gemacht oder unterbunden sei. 
Das Vorhandensein des Vermögens allein genügt 
nicht; dasselbe muß auch die Möglichkeit besitzen, 
zur Tätigkeit überzugehen. Ein freies Willens- 
vermögen besitzt auch das noch gänzlich unentwickelte 
Kind, mit der geistigen und unsterblichen Seele 
hat es dieses Vermögen erhalten; aber das Kind 
ist, solange der Zustand des Unentwickeltseins 
andauert, nicht zurechnungsfähig, da ihm der tat- 
Zurechnungsfähigkeit. 
  
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sächliche Gebrauch des freien Willensvermögens 
noch abgeht. 
Man teilt die Zurechnungsfähigkeit verschie- 
dentlich ein. 1) Rücksichtlich des Grades derselben 
unterscheidet man zwischen der vollkommenen und 
unvollkommenen Zurechnungsfähigkeit. Zwischen 
der ersteren nämlich und ihrem konträren Gegen- 
satz, der vollen Unzurechnungsfähigkeit, gibt es die 
verschiedensten Abstufungen. Jeder Mensch muß, 
bevor er zum vollen Gebrauch seiner Vernunft 
und seines freien Willens gelangt, diese verschie- 
denen Stadien durchlaufen, und die einmal er- 
langte volle Zurechnungsfähigkeit kann in den 
verschiedensten Graden wieder gestört oder gehemmt 
werden. Die Moralwissenschaft unterscheidet dem- 
nach auch ganz richtig zwischen unfreiwilligen, 
halb-freiwilligen (semi-voluntarü) und frei- 
willigen Akten des Menschen; die ersten sind un- 
zurechenbar, die zweiten unvollkommen, die dritten 
vollkommen zurechenbar. Was dann die Verbind- 
lichkeit der Handlungen, z. B. der Verträge, die 
Gott oder Menschen gemachten Versprechen, be- 
trifft, so werden nur die im Zustand voller Zu- 
rechnungsfähigkeit eingegangenen Verbindlichkeiten 
als verpflichtend angesehen. 2) Rücksichtlich der 
Dauer unterscheidet man eine permanente und eine 
vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit. Daß zu 
den Ursachen dieser letzteren die Fieberdelirien, 
hochgradige Intoxikationszustände, epileptische so- 
wie hysterische Anfälle, Schlafwandeln, captus 
melancholicus usw. gehören, bedarf keiner wei- 
teren Erörterung. Es wird in manchen Fällen 
dem Psychiater überlassen bleiben müssen, zu ent- 
scheiden, ob ein an einer psychischen Krankheit 
(z. B. Wahnvorstellungen, Manie) Leidender zu 
den permanent oder vorübergehend Unzurech- 
nungsfähigen zu rechnen sei. 3) In Hinsicht auf 
die nächstliegende Ursache kann man einen Unter- 
schied machen zwischen der Unzurechnungsfähig- 
keit, die von Umnachtung des Erkenntnisver- 
mögens, und der, welche von Lähmung des 
Willens (Abulie) herrührt. Wie das geistige 
Erkenntnisvermögen zu seiner Tätigkeit der äußern 
Mithilfe körperlicher Organe bedarf, so wird das 
gleiche auch vom geistigen Strebevermögen, dem 
freien Willen, zu sagen sein. Die krankhafte Affek- 
tion der Organe, deren der Wille bei seiner Tätig- 
keit bedarf, wird deshalb auch das Willensver- 
mögen beeinflussen und dessen Gebrauch hemmen 
oder beeinträchtigen. 4) Die Zurechnungsfähig- 
keit im Sinn der Moral und im Sinn des posi- 
tiven Rechts (die letztere wird unter Abschnitt II 
besonders behandelt). 
Die Ursachen der Unzurechnungsfähigkeit, sie 
mag permanent oder vorübergehend sein, können 
nur in fehlerhafter Bildung oder in Krankheiten 
der Organe der Seelentätigkeit liegen; beide können 
dann wieder angeboren oder später entstanden sein. 
Man bezeichnet solche Fehler und Krankheiten 
allerdings als psychische Abnormitäten; der Psyche 
oder Seele unmittelbar haften sie aber selbstver-
	        
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