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sind nicht zurechnungsfähig. Jedes Wesen hin-
gegen, das mit freiem Willensvermögen aus-
gestattet und von diesem Gebrauch zu machen im-
stand ist, ist damit auch zurechnungsfähig. Leugnet
man im Menschen den freien Willen, nimmt man,
um die Existenz einer geistigen Seele, deren Fort-
dauer nach dem Tod, und was sich weiter an die
Lehre von der Unsterblichkeit knüpft, leugnen zu
können, an, daß das, was wir freien Willen
nennen, nichts anderes sei als eine Kombination
materieller Körperteile und Kräfte, so kann man
auch bei Menschen ebensowenig als bei Tieren und
allen leblosen Wesen von Zurechnungsfähigkeit
sprechen; es bleibt dann nur die Ursächlichkeit
übrig. Man zollt demnach, indem man einen
wesentlichen Unterschied zwischen der bloßen Ur-
sächlichkeit und der Zurechnungsfähigkeit annimmt,
der Willensfreiheit des Menschen und damit der
Existenz einer geistigen Seele, wenn auch oft
unbewußt und unfreiwillig, den Tribut der An-
erkennung.
Zum Vorhandensein der Zurechnungsfähigkeit
wird demnach alles das, aber auch nur das er-
fordert, was zum freien Willen und zu dessen
Gebrauch gehört. Es muß ein freies Willens-
vermögen da sein und die Möglichkeit, dieses
Vermögen im einzelnen Fall frei zu betätigen, im
einzelnen also: 1) das Vermögen, sich zwischen
zwei Handlungen oder Gegenständen aus sich zu
entscheiden; Freiheit isteben Wahlfreiheit. Darum
wird dann 2) weiter erfordert die Erkenntnis jener
Handlungen oder Dinge, zwischen denen sich
wählen läßt, d. h. ein größeres oder geringeres
Maß von Erkenntnis der Vorzüge und der Nach-
teile des einen oder andern, oder überhaupt die
Erkenntnis der Gründe, die man hat, sich für das
eine oder andere zu entscheiden. Diese Erkenntnis
ist einerseits durchaus notwendig zur Wahlfrei-
heit, da das Nichterkannte auch nicht gewollt wer-
den kann (nihil volitum nisi cognitum); sie
bildet anderseits aber auch nur eine Vorbedingung
der Wahlfreiheit, macht diese selbst noch nicht aus.
Es muß noch die Fähigkeit vorhanden sein, nach
der Erkenntnis, und zwar nach der vollen Er-
kenntnis der einzelnen Gegenstände für den einen
wie für den andern sich entscheiden zu können, also
mit keiner Art von Notwendigkeit einen derselben
wählen zu müssen, wenngleich viel bessere und viel
stärkere Gründe für den einen als für den andern
sprechen mögen. Endlich wird 3) zur Zurechnungs-
fähigkeit verlangt, daß die Tätigkeit des freien
Willensvermögens nicht durch irgend welche Hin-
dernisse unmöglich gemacht oder unterbunden sei.
Das Vorhandensein des Vermögens allein genügt
nicht; dasselbe muß auch die Möglichkeit besitzen,
zur Tätigkeit überzugehen. Ein freies Willens-
vermögen besitzt auch das noch gänzlich unentwickelte
Kind, mit der geistigen und unsterblichen Seele
hat es dieses Vermögen erhalten; aber das Kind
ist, solange der Zustand des Unentwickeltseins
andauert, nicht zurechnungsfähig, da ihm der tat-
Zurechnungsfähigkeit.
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sächliche Gebrauch des freien Willensvermögens
noch abgeht.
Man teilt die Zurechnungsfähigkeit verschie-
dentlich ein. 1) Rücksichtlich des Grades derselben
unterscheidet man zwischen der vollkommenen und
unvollkommenen Zurechnungsfähigkeit. Zwischen
der ersteren nämlich und ihrem konträren Gegen-
satz, der vollen Unzurechnungsfähigkeit, gibt es die
verschiedensten Abstufungen. Jeder Mensch muß,
bevor er zum vollen Gebrauch seiner Vernunft
und seines freien Willens gelangt, diese verschie-
denen Stadien durchlaufen, und die einmal er-
langte volle Zurechnungsfähigkeit kann in den
verschiedensten Graden wieder gestört oder gehemmt
werden. Die Moralwissenschaft unterscheidet dem-
nach auch ganz richtig zwischen unfreiwilligen,
halb-freiwilligen (semi-voluntarü) und frei-
willigen Akten des Menschen; die ersten sind un-
zurechenbar, die zweiten unvollkommen, die dritten
vollkommen zurechenbar. Was dann die Verbind-
lichkeit der Handlungen, z. B. der Verträge, die
Gott oder Menschen gemachten Versprechen, be-
trifft, so werden nur die im Zustand voller Zu-
rechnungsfähigkeit eingegangenen Verbindlichkeiten
als verpflichtend angesehen. 2) Rücksichtlich der
Dauer unterscheidet man eine permanente und eine
vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit. Daß zu
den Ursachen dieser letzteren die Fieberdelirien,
hochgradige Intoxikationszustände, epileptische so-
wie hysterische Anfälle, Schlafwandeln, captus
melancholicus usw. gehören, bedarf keiner wei-
teren Erörterung. Es wird in manchen Fällen
dem Psychiater überlassen bleiben müssen, zu ent-
scheiden, ob ein an einer psychischen Krankheit
(z. B. Wahnvorstellungen, Manie) Leidender zu
den permanent oder vorübergehend Unzurech-
nungsfähigen zu rechnen sei. 3) In Hinsicht auf
die nächstliegende Ursache kann man einen Unter-
schied machen zwischen der Unzurechnungsfähig-
keit, die von Umnachtung des Erkenntnisver-
mögens, und der, welche von Lähmung des
Willens (Abulie) herrührt. Wie das geistige
Erkenntnisvermögen zu seiner Tätigkeit der äußern
Mithilfe körperlicher Organe bedarf, so wird das
gleiche auch vom geistigen Strebevermögen, dem
freien Willen, zu sagen sein. Die krankhafte Affek-
tion der Organe, deren der Wille bei seiner Tätig-
keit bedarf, wird deshalb auch das Willensver-
mögen beeinflussen und dessen Gebrauch hemmen
oder beeinträchtigen. 4) Die Zurechnungsfähig-
keit im Sinn der Moral und im Sinn des posi-
tiven Rechts (die letztere wird unter Abschnitt II
besonders behandelt).
Die Ursachen der Unzurechnungsfähigkeit, sie
mag permanent oder vorübergehend sein, können
nur in fehlerhafter Bildung oder in Krankheiten
der Organe der Seelentätigkeit liegen; beide können
dann wieder angeboren oder später entstanden sein.
Man bezeichnet solche Fehler und Krankheiten
allerdings als psychische Abnormitäten; der Psyche
oder Seele unmittelbar haften sie aber selbstver-