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dunkle Erkenntnis der Folgen vorhanden war.
Nichtsdestoweniger läßt sich im positiven Recht, so-
wohl im Zivil= als im Strafrecht, sehr wohl der
Grundsatz festhalten, nach welchem jeder für die
Folgen seiner Handlungen verantwortlich erklärt
wird, die er hätte erkennen oder voraussehen müssen.
Die Untertanen sind zur genauen Pflichterfüllung
anzuhalten und darum zur lÜberlegung dessen, was
sie tun, und der etwaigen Folgen desselben. Die
Gesetze können, da diese Forderung sehr viel zum
Gemeinwohl beiträgt, ein gewisses Maß von
Uberlegung vorschreiben, demnach auch im Fall
der Verletzung dieser Vorschrift den Zuwiderhan-
delnden hierfür verantwortlich machen. So nimmt
die positiv-rechtliche Zurechenbarkeit mit Recht
vielfach einen weiteren Umfang an als die natur-
gesetzliche.
Wie die Zurechenbarkeit ganz oder teilweise
aufgehoben werden kann durch Mangel an Er-
kenntnis, so auch durch unmittelbare Beeinträch-
tigung des Willensvermögens. Man kann nicht
daran zweifeln, daß das Willensvermögen unter
Umständen durch äußerst gesteigerte Affekte, d. h.
Regungen oder Neigungen des niedern Strebe-
vermögens, gewissermaßen mit fortgerissen werden
kann. Allerdings tritt damit regelmäßig auch eine
Verdunklung des Erkenntnisvermögens ein, da-
her kommt es, daß vielfach dieser Fall von dem
vorher besprochenen nicht unterschieden wird. Daß
die Frage, wann eine Handlung infolge stärkerer
Affekte an ihrer Zurechenbarkeit verliert, vor allem
für das Strafrecht Wichtigkeit hat, bedarf keiner
weiteren Begründung. Wie man einerseits zu-
geben muß, daß sehr starke Affekte, aus denen
strafbare Handlungen erfolgt sind, einen Grund
bilden zur milderen Beurteilung derselben, so darf
man anderseits hierin gewiß nicht zu weit gehen.
Wie die positiven Gesetze ein gewisses Maß von
Umsicht und Überlegung von den Untertanen ver-
langen können und müssen, so können und müssen
sie auch ein gewisses Maß von Beherrschung der
niedern Regungen verlangen. Wenn demnach auch
konstatiert ist, daß gewisse Verbrechen (z. B. Kinds-
mord seitens unehelicher Mütter, Tötung im Fall
unglücklicher Liebe usw.) vielfach oder zumeist
starken Affekten ihren Ursprung verdanken, so hat
eine vernünftige Strafgesetzgebung doch immer
sich noch die Frage zu stellen, ob nicht durch zu
weit gehende Berücksichtigung mildernder Um-
stände die öffentliche Sittlichkeit sowohl als Sicher-
heit eher geschädigt als gefördert wird.
II. Die Zurechnungsfähigkteit im Recht.
1. Die im vorstehenden vom allgemein-philoso-
phischen Standpunkt aus erörterten Begriffe der
Zurechnungsfähigkeit, der Zurechenbarkeit und der
Zurechnung sind für das positive Recht nach Maß-
gabe seiner Satzungen, die manche Abweichungen
der juristischen von der allgemein= wie moral-
philosophischen Auffassung mit sich führen, von
maßgebendster Bedeutung. Daß sie zunächst in
den Anfangsstadien der staatlichen Rechtsbildung
Zurechnungsfähigkeit.
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nicht sogleich mit voller Klarheit und Stärke her-
vortreten, ist ebenso leicht begreiflich, als daß über
ihr Wesen und ihren Inhalt im Verlauf der
Rechtsgeschichte verschiedene sich widersprechende
Ansichten auftreten und daß sich mancherlei Un-
vollkommenheiten in ihrer gesetzgeberischen Ver-
wertung gezeigt haben. Ihre Entwicklung ist mit
der wissenschaftlichen Aus= und Durchbildung des
Rechts Hand in Hand gegangen und bildet, na-
mentlich für das Strafrecht, einen Maßstab des
Fortschritts.
2. Bereits im römischen bürgerlichen (Zi-
vil-Recht, wie es uns überliefert ist, sind die
Begriffe sachlich vollständig ausgebildet und auch
der kechnische Ausdruck der Zurechnung (imputa-
tio) in dem uns heute geläufigen Sinn ist ihm
wohl bekannt. Für die Entstehung, Anderung und
Beendigung der Rechte, für den gesamten Rechts-
verkehr, kommt in erster Linie die menschliche
Handlung in Betracht. Handlung ist dem römi-
schen Recht aber Ausdruck des Willens, Hand-
lungsfähigkeit nichts anderes als Willensfähigkeit,
die Eigenschaft einer Person, vermöge deren ihr
Tun und Lassen auf ihren Willen als bewegende
Ursache zurückgeführt werden kann, also im Prin-
zip nichts anderes als Zurechnungsfähigkeit im
oben dargelegten Sinn. Unter den Handlungen
nehmen eine besonders wichtige Stellung ein die
Rechtsgeschäfte oder Willenserklärungen, d. i. der
sinnlich wahrnehmbare Ausdruck des Willens mit
dem Zweck und der Absicht, eine rechtliche Wirkung
hervorzubringen, und mit der Bedeutung, daß
diese Wirkung eintritt, weil sie gewollt ist. Der
Begriff der Zurechnung macht sich hier besonders
bemerkbar, namentlich wenn man berücksichtigt,
daß das Recht auf die Freiheit und Unverfälscht-
heit des Willens einen solchen Wert legt, daß es
den in dieser Hinsicht sich ergebenden Willens-
mängeln einen die Wirksamkeit der Rechtsgeschäfte
in Frage stellenden Einfluß einräumt. Auch
zur Begehung unerlaubter Handlungen als
Quelle von Rechtsveränderungen ist Handlungs-
fähigkeit Voraussetzung. Wer nicht handlungsfähig
ist, ist auch nicht deliktsfähig. Hier tritt die Zurück-
führung der widerrechtlichen Handlung auf den
Willen des Handelnden in dem spezifischen Be-
griff der Zurechnung zur Schuld, die eine beson-
dere Rolle im Strafrecht spielt, entgegen, indem
mit dieser Bezeichnung die Zurückführung der
Handlung auf die unrechtliche Willensstimmung
ausgedrückt wird. Die Handlungsfähigkeit (Wil-
lensfähigkeit, Zurechnungsfähigkeit) ist allen
Menschen eigen, soweit sie ihnen nicht ausdrücklich
abgesprochen wird. Das ist der Fall — von an-
derem hier abgesehen — mit Kindern unter sieben
Jahren, mit Wahn= und Blödsinnigen. Sie gilt
ferner ausgeschlossen in vorübergehenden Zustän-
den von Geistesgestörtheit, wie sie umgekehrt bei
Wahn= und Blödsinnigen während sog. lichter
Augenblicke als vorhanden angenommen wird.
Bei Minderjährigen über sieben Jahren findet