Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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einzelnen Fall statthaben, und daß bei Feststellung 
ihres Mangels eine Bestrafung nicht eintreten solle. 
Auch die Wissenschaft der folgenden Zeit beschäf- 
tigte sich mit dem Problem der Zurechnungsfähig- 
keit. Schon Carpzov unterschied Grade geistiger 
Defekte und befürwortete mildere Strafen bei 
minderer Einsichtsfähigkeit und die ganze gemein-- 
rechtliche Literatur nimmt unter Berufung auf die 
Peinliche Gerichtsordnung einen Zustand vermin- 
derter Zurechnungsfähigkeit an. Es erscheint aber 
im übrigen die Annahme nicht unberechtigt, daß 
während dieser ganzen Periode den herrschenden 
Zeitanschauungen entsprechend die Willensfreiheit 
als Kern und unerläßliche Voraussetzung der Zu- 
rechnungsfähigkeit angesehen worden ist. Jeden- 
falls treten erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh., 
als der Materialismus auch in Deutschland größere 
Geltung erlangte, deterministische Anschauungen 
in noch zu erörterndem Sinn auf und suchten in 
Wissenschaft und Gesetzgebung Einfluß zu ge- 
winnen. Aber die Partikulärgesetzgebungen 
dieser Periode und auch noch die des 19. Jahrh. 
haben dem widerstanden und stehen fast ohne 
Ausnahme auf dem Standpunkt jener alten Praxis, 
wonach Zurechnungsfähigkeit von Bewußtsein und 
freiem Willen bedingt ist. Das kommt allerdings 
nicht mit dürren Worten in der Weise zum Aus- 
druck, daß die Gesetze etwa die Zurechnungsfähig- 
keit unter Verwendung dieser Begriffe definierten 
oder die Erfordernisse der Zurechnungsfähigkeit 
aufzählten. Derartiges geschieht überhaupt nicht. 
Sie gehen vielmehr in der Art vor, daß entweder 
ein allgemeiner Grundsatz aufgestellt wird, der 
besagt, wann eine strafbare Handlung nicht an- 
genommen werden dürfe, oder ohne Aufstellung 
eines solchen allgemeinen Grundsatzes im einzelnen 
die Gründe aufgezählt werden, gemäß denen eine 
strafbare Handlung nicht vorhanden sei. Es bleibt 
dann dem Richter bzw. der Wissenschaft überlassen, 
durch Rückschlüsse klarzulegen, in welchem Ver- 
hältnis der allgemeine Grundsatz bzw. die speziell 
angegebenen Gründe zu dem Begriff der Zurech- 
nungsfähigkeit stehen, inwieweit also eine an sich 
strafbare Handlung aus dem Gesichtspunkt der 
Unzurechnungsfähigkeit oder aus andern Gründen 
als nicht vorhanden erklärt worden ist. Nach der 
ersten Art sprach z. B. das Strafrecht des preußi- 
schen Allgemeinen Landrechts den Satz aus: „Wer 
frei zu handeln unvermögend ist, bei dem findet 
kein Verbrechen, also auch keine Strafe statt"“, 
aber auch, daß nur den die Strenge des Gesetzes 
treffen soll, welcher das Strafgesetz zu wissen 
schuldig und imstande ist. Man wird jene Frei- 
heit, zu handeln, sowohl als psychische wie als 
physische Freiheit anzusprechen haben und somit 
annehmen müssen, daß das Landrecht auf dem 
Standpunkt steht, daß eine Handlung dem Täter 
dann nicht als strafbar zugerechnet werden könne, 
wenn fie nicht seinem freien Willen entsprungen 
sei. Deutlicher drückt sich das preußische Straf- 
gesetzbuch von 1851 nach der zweiten Methode 
Zurechnungsfähigkeit. 
  
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aus, wenn es bestimmt: „Ein Verbrechen oder 
Vergehen ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur 
Zeit der Tat wahnsinnig oder blödsinnig, oder die 
freie Willensbestimmung desselben durch Gewalt 
oder durch Drohungen ausgeschlossen war.“ Eine 
eingehendere Exegese dieser Bestimmung kann hier 
unterbleiben (nur zu einer interessante Verschieden- 
heiten in der Auffassung aufdeckenden Vergleichung 
dieser Bestimmung mit dem unten angeführten 
§ 51 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich 
möge angeregt sein), da schon der einfache Wort- 
laut genügt, um festzustellen, daß wenigstens in 
den beiden Fällen der Gewalt und Drohung die 
Möglichkeit eines Ausschlusses der freien Willens- 
bestimmung vorausgesetzt wird. Damit ist dann 
die Fähigkeit des Menschen zu freier Willens- 
bestimmung unumwunden anerkannt und zugleich 
die Feststellung berechtigt, daß die Auffassung des 
preußischen Strafgesetzbuchs von der Zurechnungs- 
fähigkeit mit der oben unter I definierten überein- 
trifft. Dann kann für unsere Zwecke hier dahin- 
gestellt bleiben, ob die angezogene Bestimmung 
zuläßt, daß auch Wahnsinn und Blödsinn in 
derselben Richtung zur Konstruktion der Zurech- 
nungsfähigkeit verwertet werden können, oder ob 
sie diese beiden Zustände als selbständige Schuld- 
ausschließungsgründe aufgefaßt wissen will. Auf 
Grund derselben oder einer wenigstens sachlich 
übereinstimmenden Ausdrucksweise wird man dann 
noch eine Anzahl von Strafgesetzbüchern anderer 
deutscher Partikularstaaten aus dieser Zeit für 
dieselbe Auffassung in Anspruch nehmen dürfen. 
So z. B. das sächsische Strafgesetzbuch von 1855, 
wonach eine gesetzwidrige Tat nicht als Verbrechen 
zugerechnet werden kann, wenn der Täter zur Zeit 
der Tat nicht die Fähigkeit der Selbstbestimmung 
besaß. So das Oldenburgische von 1857, das 
unter den Gründen für die Unzurechnungsfähig- 
keit auch die Ausschließung der freien Willens- 
bestimmung unter bestimmten Umständen aufführt. 
Bei denjenigen Gesetzbüchern dieser Periode, 
welche zwar den Mangel geistiger Gesundheit unter 
Aufzählung der mannigfachsten Formen, in denen 
er sich kundgibt (z. B. Wahnsinn, Blödsinn, Ra- 
serei, Melancholie, Verrücktheit, gänzliche Ver- 
wirrung der Sinne oder des Verstands oder auch 
Altersschwäche, die des Verstandsgebrauchs be- 
raubt), als Grund dafür anführen, daß eine straf- 
bare Handlung nicht anzunehmen sei, dagegen 
keinerlei Hinweis auf die freie Willensbestimmung 
in irgend einer Form enthalten, wird allerdings 
der vorige Rückschluß, wenngleich er aus allge- 
meinen Gründen naheliegt, nicht ohne weiteres 
sich rechtfertigen lassen. Ein Beispiel dafür liefert 
das Strafgesetzbuch für Bayern von 1813 (das 
bayrische Strafgesetzbuch von 1862 führt als 
Grund für die Unzurechnungsfähigkeit mangelnde 
Fähigkeit der Selbstbestimmung auf), das ohne 
einen solchen Hinweis unter einer Anzahl von 
Nummern die Fälle aufzählt, in denen weder wegen 
Vorsatz noch wegen Fahrlässigkeit eine gesetzwidrige
	        
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