Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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zu strafbaren Handlungen niederzuhalten und dem 
allgemeinen Rechtsbewußtsein gemäß zu handeln; 
es könne daher nicht bedenklich erscheinen, diesem 
allgemeinen Urteil, in welchem die strafrechtliche 
wie die sittliche Zurechnung ihren Grund habe, 
im Strafgesetzbuch Ausdruck zu geben. Auch die 
Begründung zum Vorentwurf zum neuen deut- 
schen Strafgesetzbuch steht auf dem Standpunkt, 
daß der Ausdruck des § 51 bestehenden Rechts 
nicht im metaphysischen Sinn, sondern „im Sinn 
des gewöhnlichen Lebens“ zu verstehen sei. In 
der angezogenen Stelle der Motive steht aber 
nicht nur nichts, was die indeterministische Aus- 
legung widerlegt, im Gegenteil, sie wird bestätigt. 
Daß der Gesetzgeber sich mit dem allgemeinen 
menschlichen Urteil in Übereinstimmung halten 
will, ist kluge kriminalpolitische Rücksichtnahme. 
Als menschliches Urteil, auf das sich die Motive 
berufen, war aber doch das zur Zeit ihrer Ent- 
stehung herrschende gemeint, und es wird niemand 
behaupten können, daß damals bereits die deter- 
ministischen Anschauungen dieses Urteil „allge- 
mein“ in ihrem Sinn gestimmt hätten. Zudem 
weist gerade der Ausdruck „Niederhalten von An- 
trieben zu strafbaren Handlungen durch die Wil- 
lenskraft“ auf das Niederkämpfen innerer Re- 
gungen hin, beschäftigt sich also nicht mit Freiheit 
von äußerem Zwang. Es wäre sonst auch höchst 
überflüssig gewesen und nicht zu verstehen, daß das 
Strafgesetzbuch noch die oben mitgeteilte Bestim- 
mung über die Wirkung unwiderstehlicher Ge- 
walt und schwerer Drohung ausgenommen hätte. 
Es ist darum nicht einzusehen, warum das Straf- 
gesetzbuch „etwas als freie Willensbestimmung 
bezeichnet habe, was in Wahrheit solche gar nicht 
ist“. Es ist aber weiterhin auch nicht richtig, daß, 
wie von deterministischer Seite behauptet wird 
(ogl. d. Art. Strafe usw. Sp. 268), diese meta- 
physische Willensfreiheit eine ursachlose Selbst- 
bestimmung, eine dem Kausalgesetz entrückte, dem 
Kausalitätsprinzip widersprechende Willensfreiheit 
bedeute. „Denn diese Selbstbestimmung ist nicht 
ursachlos, sondern begründet, motiviert durch die 
von der Vernunft vorgelegten Motive, ohne daß 
aber der Wille denselben notwendig nachgeben 
müsse“; sie besteht darin, „daß der menschliche 
Wille, solange er mit Selbstbewußtsein und Über- 
legung gepaart ist, die Fähigkeit hat, unter dem 
Einfluß von Motiven sich selbst zum Handeln zu 
bestimmen, wodurch er die unmittelbare Ursache 
der von ihm gewollten Handlungen wird“. Die 
Willensfreiheit ist demnach nicht identisch mit 
menschlicher Willkür. Es wird vielmehr gar nicht 
verkannt, daß treibende und drängende Motive an 
den Willen herantreten und Einfluß ausüben 
können, aber schließlich ist es doch der freie Wille, 
der den entscheidenden Ausschlag für die Richtung 
des Handelns gibt; es gibt keine innere Nötigung 
im deterministischen Sinn, keine unwiderstehbare 
Auslieferung an die andrängenden Motive. Der 
entschiedene Determinismus bleibt indessen nicht 
Zurechnungsfähigkeit. 
  
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bei der vorgedachten Verschiebung des Begriffs 
der freien Willensbestimmung stehen. In dem 
Art. Strafe usw. Sp. 268 ist in dem dort an- 
gezogenen Ausspruch v. Liszts seine grundsätzliche 
Stellungnahme zu dem Problem der menschlichen 
Willensfreiheit vollständig gekennzeichnet. Danach 
gibt es für den Determinismus überhaupt keine 
menschliche Willensfreiheit, der Mensch ist viel- 
mehr „unbedingt und uneingeschränkt unfrei, sein 
Verbrechen die notwendige, unvermeidliche Wir- 
kung der gegebenen Bedingungen“. Damit ist 
natürlich jede Möglichkeit abgeschnitten, die Zu- 
rechnungsfähigkeit überhaupt noch mit dem Willen 
des Menschen in Beziehung zu setzen; es muß für 
sie eine Definition, ein Begriff gefunden werden, 
der diese Beziehung außer acht lassen kann. Die 
verbreitetste Begriffsbestimmung in diesem deter- 
ministischen Sinn ist die des Professors v. Liszt, 
der die Zurechnungsfähigkeit als normale Be- 
stimmbarkeit durch Motive, insbesondere als Emp- 
fänglichkeit für die durch Strafe bezweckte Motiv- 
setzung oder auch neuerdings als Determinierbar- 
keit durch die Normen sozialen Verhaltens erklärt. 
Auf eine Inkonsequenz dieser Normierung hat der 
Professor v. Bar treffend hingewiesen, indem er 
bemerkt: „Wer sich im einzelnen Fall nicht durch 
soziale Normen determinieren läßt, also ein Ver- 
brechen begeht, ist nicht determinierbar, folglich 
nicht zurechnungsfähig. So kann in Wahrheit 
niemand bestraft werden.“ Es ist auch ein Wider- 
spruch in sich, den Menschen für unfrei zu er- 
klären und dann doch von ihm die in der Motiv- 
setzung durch Strafandrohung sich kundgebende 
Erwartung zu hegen, er werde auf diese Straf- 
androhung normal reagieren. Die selbstverständ- 
liche Folge dieser Auffassung ist es, daß es auch 
keine Schuld und keine Zurechnung zur Schuld 
im oben erwähnten Sinn gibt. Aber da einmal 
Schuld Begriffsmerkmal des Verbrechens und 
ohne Schuld keine Strafe möglich ist, so muß 
ihr ein anderer Inhalt gegeben werden. Die 
Schuld ist nunmehr nichts weiter als „die tat- 
sächliche Verantwortlichkeit für die begangene 
Handlung“. Es ist ohne weiteres klar, daß inner- 
halb des bestehenden Strafrechts für eine derartige 
Auffassung kein Raum ist. Man macht hier den 
Verbrecher, der gar kein Verbrecher, sondern nur 
der „Durchgangspunkt von Anreizen, der Wir- 
kungen weiter zurückliegender Ursachen“, nur „ein 
Opfer der Verhältnisse“ ist, für eine Handlung 
verantwortlich, die gar keine Handlung, sondern 
nichts mehr als ein mechanischer Tätigkeitsakt ist. 
Der folgerichtige Determinismus leugnet das auch 
gar nicht. Er verlangt ein Strafgesetzbuch, das 
die Zurechnungsfähigkeit „als unnützen Ballast" 
„mit den sonstigen Inventarstücken der überlie- 
ferten Begriffsjurisprudenz über Bord zu werfen“ 
hat, nach dem es auf Willensfreiheit, Verantwort- 
lichkeit, Schuld u. dgl. überhaupt nicht mehr an- 
kommt. Es kann nicht mehr Bestrafung des sog. 
Verbrechers das Ziel der Bestimmungen sein,
	        
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