Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sondern nur Sicherung vor ihm und Unschädlich- 
machung seiner Person. Die Begriffe „Schuld“ 
und „Sühne" mögen in den Schöpfungen unserer 
Dichter fortleben, im Strafrecht haben sie nichts 
verloren. Die begriffliche Scheidewand zwischen 
Verbrechen und Wahnsinn und mit ihr der Be- 
griff der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit muß 
weichen und fallen. Die Verwirklichung dieser 
Forderungen würde nicht eine Fortbildung unseres 
Strafrechts, sondern bei der vollständigen Besei- 
tigung aller grundlegenden Begriffe des heutigen 
Rechts eine grundstürzende Umwälzung desselben 
bedeuten, und zwareine Revolution von unberechen- 
barer Tragweite. Auf gewisse Konsequenzen der 
deterministischen Auffassung ist schon in dem Art. 
Strafe usw. Sp. 269 ff, besonders Sp. 271 auf- 
merksam gemacht. Es mag sein, daß man auf den 
deterministischen Anschauungen ein folgerichtiges 
Gesetzbuch ausbauen kann, ein solches Gesetzbuch 
der Zukunft könnte sich aber nicht mit Fug ein 
„Strafgesetzbuch“ nennen; es bedeutete nichts 
anderes als eine Sammlung polizeilicher Maß- 
regeln in der vorhin erwähnten Richtung. Daß 
durch eine solche Wendung der Dinge die Würde 
unserer Rechtspflege schwere Einbuße erleiden 
würde, was von deterministischer Seite selbstver- 
ständlich bestritten wird, erscheint zweifellos. Wer 
die Ansicht von Leibniz zu diesem Punkt kennen 
lernen will, sei auf dessen Theodicee §§ 67 ff ver- 
wiesen. Von einem „Richten“ könnte selbstver- 
ständlich nicht mehr die Rede sein, sondern nur 
von Untersuchung und Feststellung, zu welcher 
Sorte antisozial veranlagter Menschen die vor die 
Staatsbehörde gestellte „Maschine der Kräfte- 
umbildung“ (Ihomme est une machine de 
transformation des forces) gehört, um sie je 
nach dem Grad ihrer Antisozialität unschädlich zu 
machen. Wohl durch das Bedenkliche aller dieser 
Konsequenzen „determiniert“, „will“ ein Teil der 
Deterministen auf vollständige Durchführung der 
Forderungen, vorläufig wenigstens, verzichten und 
zeigt sich zu Kompromissen geneigt. Die betref- 
fenden Vorschläge laufen im wesentlichen auf Ein- 
führung des Begriffs der verminderten Zurech- 
nungsfähigkeit und auf Anderung unseres Strafen- 
systems hinaus, bei der der Besserungszweck der 
Strafe mehr als bisher zur Geltung käme u. a. 
(ogl. dazu d. Art. Strafrecht unter III, Sp. 326 ff), 
zielen also auf Reformen, für die der Indeter- 
minismus auch ohnehin eintritt. Auch ist speziell 
v. Liszt bereit, die sog. Gelegenheitsverbrecher 
dem zeitigen Strafrecht, ohne daß dessen Grund- 
gedanken eine wesentliche Anderung zu erfahren 
brauchten, zu überantworten. Die besserungs- 
fähigen Zustandsverbrecher und die unverbesser- 
lichen Gewohnheitsverbrecher aber „reklamiert er 
mit um so größerer Bestimmtheit für die Behand- 
lung nach den Grundsätzen der soziologischen 
Schule“, d. h. er will die letzte Kategorie grund- 
sätzlich wie gemeingefährliche Geisteskranke in Ver- 
wahrung nehmen. Ist man auch von dieser Seite 
Zurechnungsfähigkeit. 
  
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geneigt, dem Gesetzgeber, da die Aufgabe der 
Strafgesetzreform keine wissenschaftliche ist, Ab- 
weichungen von den Forderungen und Ergeb- 
r*r strenger Wissenschaftlichkeit zu gestatten, 
auf eine Forderung will der Determinismus 
nicht verzichten, das ist die Beseitigung der Wil- 
lensfreiheit als Grundlage der strafrechtlichen 
Zurechnungsfähigkeit. Zum mindesten soll in den 
gesetzlichen Bestimmungen irgend welcher Hin- 
weis auf die freie Willensbestimmung als über- 
flüssig für die Konstruktion der Zurechnungsfähig- 
keit unterbleiben. Es wird das ein vergebliches 
Bemühen sein; denn wenn auch ein solcher Hin- 
weis unterbleibt, so wird es dennoch keinen Richter 
geben können, der nicht davon ausgehen muß, 
„daß es keine Zurechnung ohne Freiheit gibt“. 
Die Stellungnahme des Vorentwurfs zum 
neuen Strafgesetzbuch kennzeichnet sich im wesent- 
lichen in folgenden Vorschriften. Er stellt den 
Satz auf, daß nur der strafbar ist, der schuldhaft 
handelt. Schuldhaft handelt, wer entweder vor- 
sätzlich, d. h. mit Wissen und Willen, oder fahr- 
lässig die Tat ausführt. Nicht strafbar ist, wer 
zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig 
oder bewußtlos war, so daß dadurch die freie 
Willensbestimmung ausgeschlossen wurde. — Mit 
dem letzteren Ausdruck will der Vorentwurf keinerlei 
Stellung zu den Lehren vom Determinismus und 
Indeterminismus nehmen. Die wissenschaftlichen 
Meinungsverschiedenheiten darüber, ob der Mensch 
Willensfreiheit besitze, könnten für den Gesetzgeber 
nicht entscheidend sein. Dieser habe vielmehr von 
der Voraussetzung eines geistigen Zustands des 
Menschen auszugehen, der nach der allgemeinen 
Volksanschauung als ein normaler die Verant- 
wortlichkeit für strafbare Handlungen begründe, 
und von dieser Verantwortlichkeit nur abzusehen, 
soweit dieser Zustand in abnormer Weise aus- 
geschlossen oder beeinträchtigt sei. Werde dieser 
Zustand mit der Fähigkeit zu freier Willens- 
bestimmung in Verbindung gebracht, so sei dieser 
Ausdruck hiernach nicht in metaphysischem Sinn, 
sondern im Sinn des gewöhnlichen Lebens zu 
verstehen. — Das ist, mit Ausnahme der be- 
stimmteren Ausdrucksweise am Schluß, im wesent- 
lichen nichts anderes, als was nach den obigen 
Mitteilungen in den Motiven zu § 51 des gelten- 
den Strafgesetzbuchs auch stand, und wird, wie 
anzunehmen ist, wenn die vorgeschlagene Bestim- 
mung Gesetz werden sollte, trotz der bestimmten 
Schlußbemerkung in Ansehung der Auslegung 
das Schicksal des § 51 teilen. 
Literatur zu I: Thom. von Aquin, Summa theo- 
loxicn 1. 2, qd. 6ff; Suarez, Opera omnia IV; 
Lehmkuhl, Tneol. mor. (11910); v. Krafft- .Ebing, 
Lehrbuch der gerichtl. Plochopathologie (1892). 
Zu ll: Die verschiedenen Lehr= u. Handbücher 
des Strafrechts, z. B. von Berner, Binding u. 
v. Liszt; Strafrecht in den Enzyklopädien von 
Birkmeyer u. v. Hothendorsft Beling, Grund- 
züge des Strafrechts (1905). — v. Bar, Die Schuld 
nach dem Strafgesetz (1907); Berner, Grundlinien
	        
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