Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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gesprochen. Gebräuchlich sowohl im vulgären 
Sprachgebrauch wie offiziell (auf manchen Uni- 
versitäten usw.) ist auch die ausschließliche Anwen- 
dung des Begriffs Staatswissenschaften auf das 
Gesamtgebiet der Volkswirtschaftslehre. Der Begriff 
der Staatswissenschaften gehört demnach zu den 
Etiketten, bei denen „die Häufigkeit der Benutzung 
des Ausdrucks im umgekehrten Verhältnis zu der 
Klarheit der Vorstellung vom Wesen und Umfang 
des durch die Etikette bezeichneten Wissensgebiets 
steht“ (G. v. Mayr). 
Der einzige Versuch, eine scharfe begriffliche 
Definierung und Gliederung der Staatswissen- 
schaften nach der heute üblichen Auffassung zu 
geben, stammt von Georg v. Mayr (Begriff und 
Gliederung der Staatswissenschaften (71910). 
Er unterscheidet Staatswissenschaften im engeren 
wörtlichen Sinn und solche im übertragenen Sinn. 
Die ersteren umfassen nach Mayr jene Wissens- 
zweige, welche sich mit dem „Wissen vom Staat“ 
beschäftigen, sich auf die Erkenntnis des tatsäch- 
lichen Entwicklungslebens des Staats (soziologische 
Auffassung und Betrachtung) oder der für die Ge- 
staltung des Staats maßgebenden Rechtsnormen 
beziehen (juristische Auffassung und Betrachtung 
des Staats). Die soziologische Betrachtung des 
staatlichen Entwicklungslebens befaßt sich mit der 
geschichtlichen Entfaltung des Staats, seinem 
Gegenwartszustand, seinen auf die Zukunftsent- 
wicklung zielenden Tendenzen, mit der Erkenntnis 
des gesamten staatlichen Wesens und Lebens, der 
verschiedenen Ziele und Richtungen dieses Le- 
bens, der für den staatlichen Lebensprozeß maß- 
gebenden Kräfte und Organe. Die Wissens- 
zweige, welche sich diesen verschiedenen Fragen 
widmen, sind die Staatslehre, die sich mit der 
Darlegung des Wesens und der Aufgaben des 
Staats, der Zustände und Erscheinungen des 
staatlichen Lebens befaßt, und die Politik (Staats- 
klugheitslehre, Staatskunst, Politik als Wissen- 
schaft), welche das richtige Verhalten und Ein- 
greifen der treibenden und leitenden Kräfte im 
Staat zur Herbeiführung der für zweckmäßig er- 
achteten Wirkung lehrt. Je nachdem diese Be- 
trachtung eine allgemeine und zeitlich wie räumlich 
vergleichende ist oder für bestimmte (konkrete) 
Staatsgebilde angestellt wird, wird zwischen all- 
gemeiner Staatslehre und allgemeiner Politik und 
spezieller Staatslehre und spezieller Politik unter- 
schieden. Die speziellen Disziplinen sind jedoch 
wenig entwickelt. Das gleiche gilt von der sozio- 
logischen Betrachtung des Ineinandergreifens des 
tatsächlichen Entwicklungslebens verschiedener 
Staaten. Internationale Staatslehre und inter- 
nationale Polilik sind bisher nicht zur Verselb- 
ständigung gelangt und teils dem Völkerrecht teils 
der Politik eingereiht. 
Die suristische Betrachtung des Staats erstrebt 
die Erkennmis der sormalisierten Rechtsabsonde- 
rungen (Sekretionen), die innerholb des Gebiets 
des Staatslebens zur Verselbständigung gelangen 
Staatswissenschaften. 
  
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und bindende Normen für dessen fortlaufende Ge- 
staltung bilden, Erkenntnis der Gegenwarts- 
gestaltung sowohl wie der geschichtlichen Entwick- 
lung dieser Rechtsgrundsätze ist hier Aufgabe der 
Forschung. Auch für die juristische Staatsbetrach- 
lung gibt es zwei Disziplinen, das Staatsrecht 
und das Völkerrecht. Das Staatsrecht regelt „des 
Staats Eigenleben in den Modalitäten seines Da- 
seins und in seinen einzelnen Lebensäußerungen“. 
es umfaßt sowohl das Verfassungsrecht (Staats- 
recht im engeren Sinn, den „rechtlichen Bau des 
Staatskörpers") als auch das Verwaltungsrecht, 
die Rechtsgrundsätze, welche für die Verwaltung, 
d. h. die fortlaufende Staatstätigkeit im einzelnen 
maßgebend sind. Jeder Staat hat sein besonderes 
(positives) Staatsrecht. Daneben gibt es ein all- 
gemeines Staatsrecht (auch Staatsrechtslehre ge- 
nannt), der Inbegriff der durch Vergleichung der 
verschiedenen positiven Staatsrechte gewonnenen 
allgemein gültigen Staatsrechtssätze. Das Völker- 
recht als das internationale öffentliche Recht ist 
zur Ausgestaltung gelangt infolge des Ineinander- 
greifens der Rechtssphären staatsrechtlich unver- 
bunden sich gegenüberstehender Organe. 
Staatswissenschaften im engeren 
Sinn nennt G. v. Mayr die besondern 
wissenschaftlichen und die allgemeinen 
wissenschaftlichen Wissenszweige. Drei 
teile unterscheidet er dabei: 1) die 
wissenschaften als die Lehre von dem 
Leben der Menschen in seinen 
scheinungsformen, 2) die Soziallehre im engeren 
Sinn als die Lehre von den sozialen Schichten 
und dem Eingreifen der öffentlichen Gewalt zu- 
gunsten oder ungunsten dieser Schichten, 3) die 
Statistik als die Lehre von den sozialen Massen. 
Die „in so mancherlei ungewissen Farben schil- 
lernde“ allgemeine Gesellschaftswissenschaft oder 
Soziologie schließt G. v. Mayr ausdrücklich aus. 
Der dankenswerte Mayrsche Gliederungsversuch 
hat in der Hauptsache allgemeine Zustimmung 
gefunden. Zu berücksichtigen bleibt jedoch, daß 
Bezeichnungen wie Staatslehre, Staatsrechtslehre, 
allgemeine Staatslehre, soziale Staatslehre usw. 
keine feststehenden Begriffe sind, daß bei den 
Systematikern des Staatsrechts und der philo- 
sophischen Staatslehre zum Teil recht wesentliche 
Verschiedenheiten in der begrifflichen Auffassung 
bestehen, daß die soziologische und juristische Be- 
trachtungsweise des Staatslebens durchaus nicht 
immer auseinandergehalten wird. 
Vielsach findet sich die Bezeichnung Staats- 
wissenschaft im Zusammenhang mit einem andern 
Sammelbegriff. Die üblichsten derartigen Zu- 
sammenfassungen sind: 
a) Staats- und Gesellschaftswissen- 
schaften. Die Staatswissenschaften sind ein be- 
grenzter Ausschnitt aus dem großen Gebiet der 
Gesellschaftswissenschaften, welche das Wissen vom 
gesamten menschlichen Gemeinleben pflegen, welche 
  
  
    
   
   
sämtliche Geisteswissenschaften umfassen, soweit
	        
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