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gesprochen. Gebräuchlich sowohl im vulgären
Sprachgebrauch wie offiziell (auf manchen Uni-
versitäten usw.) ist auch die ausschließliche Anwen-
dung des Begriffs Staatswissenschaften auf das
Gesamtgebiet der Volkswirtschaftslehre. Der Begriff
der Staatswissenschaften gehört demnach zu den
Etiketten, bei denen „die Häufigkeit der Benutzung
des Ausdrucks im umgekehrten Verhältnis zu der
Klarheit der Vorstellung vom Wesen und Umfang
des durch die Etikette bezeichneten Wissensgebiets
steht“ (G. v. Mayr).
Der einzige Versuch, eine scharfe begriffliche
Definierung und Gliederung der Staatswissen-
schaften nach der heute üblichen Auffassung zu
geben, stammt von Georg v. Mayr (Begriff und
Gliederung der Staatswissenschaften (71910).
Er unterscheidet Staatswissenschaften im engeren
wörtlichen Sinn und solche im übertragenen Sinn.
Die ersteren umfassen nach Mayr jene Wissens-
zweige, welche sich mit dem „Wissen vom Staat“
beschäftigen, sich auf die Erkenntnis des tatsäch-
lichen Entwicklungslebens des Staats (soziologische
Auffassung und Betrachtung) oder der für die Ge-
staltung des Staats maßgebenden Rechtsnormen
beziehen (juristische Auffassung und Betrachtung
des Staats). Die soziologische Betrachtung des
staatlichen Entwicklungslebens befaßt sich mit der
geschichtlichen Entfaltung des Staats, seinem
Gegenwartszustand, seinen auf die Zukunftsent-
wicklung zielenden Tendenzen, mit der Erkenntnis
des gesamten staatlichen Wesens und Lebens, der
verschiedenen Ziele und Richtungen dieses Le-
bens, der für den staatlichen Lebensprozeß maß-
gebenden Kräfte und Organe. Die Wissens-
zweige, welche sich diesen verschiedenen Fragen
widmen, sind die Staatslehre, die sich mit der
Darlegung des Wesens und der Aufgaben des
Staats, der Zustände und Erscheinungen des
staatlichen Lebens befaßt, und die Politik (Staats-
klugheitslehre, Staatskunst, Politik als Wissen-
schaft), welche das richtige Verhalten und Ein-
greifen der treibenden und leitenden Kräfte im
Staat zur Herbeiführung der für zweckmäßig er-
achteten Wirkung lehrt. Je nachdem diese Be-
trachtung eine allgemeine und zeitlich wie räumlich
vergleichende ist oder für bestimmte (konkrete)
Staatsgebilde angestellt wird, wird zwischen all-
gemeiner Staatslehre und allgemeiner Politik und
spezieller Staatslehre und spezieller Politik unter-
schieden. Die speziellen Disziplinen sind jedoch
wenig entwickelt. Das gleiche gilt von der sozio-
logischen Betrachtung des Ineinandergreifens des
tatsächlichen Entwicklungslebens verschiedener
Staaten. Internationale Staatslehre und inter-
nationale Polilik sind bisher nicht zur Verselb-
ständigung gelangt und teils dem Völkerrecht teils
der Politik eingereiht.
Die suristische Betrachtung des Staats erstrebt
die Erkennmis der sormalisierten Rechtsabsonde-
rungen (Sekretionen), die innerholb des Gebiets
des Staatslebens zur Verselbständigung gelangen
Staatswissenschaften.
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und bindende Normen für dessen fortlaufende Ge-
staltung bilden, Erkenntnis der Gegenwarts-
gestaltung sowohl wie der geschichtlichen Entwick-
lung dieser Rechtsgrundsätze ist hier Aufgabe der
Forschung. Auch für die juristische Staatsbetrach-
lung gibt es zwei Disziplinen, das Staatsrecht
und das Völkerrecht. Das Staatsrecht regelt „des
Staats Eigenleben in den Modalitäten seines Da-
seins und in seinen einzelnen Lebensäußerungen“.
es umfaßt sowohl das Verfassungsrecht (Staats-
recht im engeren Sinn, den „rechtlichen Bau des
Staatskörpers") als auch das Verwaltungsrecht,
die Rechtsgrundsätze, welche für die Verwaltung,
d. h. die fortlaufende Staatstätigkeit im einzelnen
maßgebend sind. Jeder Staat hat sein besonderes
(positives) Staatsrecht. Daneben gibt es ein all-
gemeines Staatsrecht (auch Staatsrechtslehre ge-
nannt), der Inbegriff der durch Vergleichung der
verschiedenen positiven Staatsrechte gewonnenen
allgemein gültigen Staatsrechtssätze. Das Völker-
recht als das internationale öffentliche Recht ist
zur Ausgestaltung gelangt infolge des Ineinander-
greifens der Rechtssphären staatsrechtlich unver-
bunden sich gegenüberstehender Organe.
Staatswissenschaften im engeren
Sinn nennt G. v. Mayr die besondern
wissenschaftlichen und die allgemeinen
wissenschaftlichen Wissenszweige. Drei
teile unterscheidet er dabei: 1) die
wissenschaften als die Lehre von dem
Leben der Menschen in seinen
scheinungsformen, 2) die Soziallehre im engeren
Sinn als die Lehre von den sozialen Schichten
und dem Eingreifen der öffentlichen Gewalt zu-
gunsten oder ungunsten dieser Schichten, 3) die
Statistik als die Lehre von den sozialen Massen.
Die „in so mancherlei ungewissen Farben schil-
lernde“ allgemeine Gesellschaftswissenschaft oder
Soziologie schließt G. v. Mayr ausdrücklich aus.
Der dankenswerte Mayrsche Gliederungsversuch
hat in der Hauptsache allgemeine Zustimmung
gefunden. Zu berücksichtigen bleibt jedoch, daß
Bezeichnungen wie Staatslehre, Staatsrechtslehre,
allgemeine Staatslehre, soziale Staatslehre usw.
keine feststehenden Begriffe sind, daß bei den
Systematikern des Staatsrechts und der philo-
sophischen Staatslehre zum Teil recht wesentliche
Verschiedenheiten in der begrifflichen Auffassung
bestehen, daß die soziologische und juristische Be-
trachtungsweise des Staatslebens durchaus nicht
immer auseinandergehalten wird.
Vielsach findet sich die Bezeichnung Staats-
wissenschaft im Zusammenhang mit einem andern
Sammelbegriff. Die üblichsten derartigen Zu-
sammenfassungen sind:
a) Staats- und Gesellschaftswissen-
schaften. Die Staatswissenschaften sind ein be-
grenzter Ausschnitt aus dem großen Gebiet der
Gesellschaftswissenschaften, welche das Wissen vom
gesamten menschlichen Gemeinleben pflegen, welche
sämtliche Geisteswissenschaften umfassen, soweit