Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sie nicht das individuelle Seelenleben berühren. 
Staat und Gesellschaft sind keine Gegensätze, Ge- 
sellschaft ist nur der allgemeine Begriff. 
Der Ausdruck Gesellschaft kann aber auch als 
Sammelbegriff gebraucht und dem Staat gegen- 
übergestellt werden, er bezeichnet dann den In- 
begriff menschlicher Zusammenhänge und Be- 
ziehungen, die zwar innerhalb des Staats sich 
finden, von ihm aber verschieden sind (Stände, 
Berufsgruppen, Interessenverbände usw.). Die 
einzelnen gesellschaftlichen Kreise haben ihr eignes 
Leben, mit dessen Außerungen sie über die staat- 
lichen Grenzen hinausreichen. Staat und Gesell- 
schaft in diesem Sinn stehen nebeneinander. 
G. v. Mayr gliedert die Gesellschaftswissenschaf- 
ten 1) in die allgemeinen (Statistik, Soziallehre, 
Soziologie), 2) in die besondern Gesellschafts- 
wissenschaften (Erforschung einzelner Richtungen 
gesellschaftlicher Beziehungen, z. B. Wirtschafts- 
lehre, Erforschung einzelner sozialer Gebilde, 
z. B. Staat, Erforschung besonderer ideeller Sekre- 
tionen des gesellschaftlichen Lebens, z. B. Rechts- 
wissenschaft), 3) in die Geschichte. 
b) Staats= und Wirtschaftswissen- 
schaften. Die Wirtschaftswissenschaft (Volks- 
wirtschaftslehre) ist von Haus aus eine selbstän- 
dige Wissenschaft, die der Erforschung einer be- 
sondern Seite des menschlichen Gemeinlebens 
dienen will. Sie bestimmt einmal die begrifflichen 
Grundlagen und pflegt den Staat ganz und gar 
nicht berührende theoretische Untersuchungen, sie 
zieht ferner neben der Volks= bzw. Staatswirt- 
schaft auch die andern wirtschaftlichen Spezial- 
gebilde, die Hauswirtschaft, das private Unter- 
nehmen in seinen verschiedenen Formen, Welt- 
handel und Weltverkehr in den Kreis ihrer Be- 
obachtung. Den Staatswissenschaften gehört also 
die Wirtschaftswissenschaft im Grund genommen 
nur insoweit an, als sie den Staat selbst und dessen 
Unterverbände als Wirtschaftssubjekt ins Auge 
faßt, soweit sie innerhalb der Volkswirtschaftslehre 
eine Staatswirtschaftslehre aufstellt. Es sind also 
von der Wirtschaftswissenschaft bzw. der Volks- 
wirtschaftslehre namentlich die Gebiete der staat- 
lichen Volkswirtschaftspolitik und der Finanz- 
wissenschaft, welche in den Kreis der Staatswissen- 
schaften gehören. Daß neben dieser Auffassung 
eine andere, teilweise sogar offizielle Auffassung 
besteht, welche die gesamte Nationalökonomie, 
also auch die theoretische Volkswirtschaftslehre, zu 
den Staatswissenschaften zählt, sie vielfach sogar 
als ihr Hauptstück betrachtet, wurde oben schon 
erwähnt. 
c)Staats= und Rechtswissenschaf- 
ten. Nicht das ganze Rechtswissen ist Staats- 
wissen. Der Staat, meint Gierke, ist immer nur 
der Gestaltgeber, nicht der Schöpfer des Rechts. 
Recht und Macht sind aufeinander angewiesen, 
aber sie sind nicht auseinander ableitbar, sondern 
gleich ursprünglich und also einander ebenbürtig. 
Am meisten selbständig ist das gesamte Privat- 
Staatswissenschaften. 
  
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recht, die eigentliche Mutter der Jurisprudenz. 
Auch das Strafrecht, welches sich mit dem „Ver- 
balten einzelner im Sinn der Wahrnehmung der 
Staatsordnung“ (G. v. Mayr) befaßt und das 
teils als Teil des öffentlichen Rechts betrachtet 
wird, teils eine selbständige Zwischenstellung zwi- 
schen Privatrecht und öffentlichem Recht zu- 
gewiesen erhält, bildet keinen Teil der Staats- 
wissenschaften. Dagegen gehören in den Kreis 
der Staatswissenschaften sowohl wie der Rechts- 
wissenschaften das Staatsrecht (einschließlich des 
Verwaltungsrechts) und das Völkerrecht. Über 
die Einbeziehung des (Staats-) Kirchenrechts 
gehen die Ansichten auseinander. „Allerdings“, 
führt Gierke weiter aus, „gibt es kein Rechts- 
gebiet, das nicht irgendwie in das Gebiet der 
Staatswissenschaften hineinreichte. Denn Objekt 
der Staatswissenschaft ist die Lehre vom Verhalten 
des Staats zum Rechtsleben, die wir Rechts- 
politik nennen können. Und da der Staat kraft 
seiner Gesetzgebungsgewalt befugt ist, die Rechts- 
ordnung in allen ihren Teilen souverän zu ge- 
stalten, und heute energischer als je von dieser Be- 
fugnis Gebrauch macht, so erwächst insbesondere 
in der Gesetzgebungspolitik der Staatswissenschaft 
eine so gut das Privatrecht wie das öffentliche 
Recht umspannende Aufgabe“ (Internationale 
Wochenschrift (1910|] 492). · 
d) Staats- und Sozialwissenschaf— 
ten. Wird die Bezeichnung Sozialwissenschaften 
im Sinn von Gesellschaftswissenschaften an- 
gewandt, dann gilt das unter a) Gesagte. Sozial- 
wissenschaft wird jedoch auch in einem engeren 
Sinn (sozial soviel wie ausgleichend) gebraucht. 
Es werden dann die die „Soziale Frage“ behan- 
delnden Gesichtspunkte aus den Staats= bzw. 
Wirtschaftswissenschaften herausgehoben, es wird 
ein besonderer Nachdruck auf das soziale Moment 
gelegt. Bisweilen soll mit dieser Bezeichnung 
jedoch auf einen Gegensatz hingewiesen werden 
zwischen der Volkswirtschaftslehre (Staatswissen- 
schaft), für welche nur die Gesetze der Produkti- 
vität zu gelten hätten, und der Sozialwissenschaft 
(Sozialpolitik), für welche ethische Leitmotive aus- 
schlaggebend wären. 
Der Begriff Staatswissenschaften hat seit 
seinem Aufkommen verschiedene Wandlungen 
durchgemacht. Das Wort „Staat“ wurde in 
Deutschland erst im 18. Jahrh. gebräuchlich, als 
sich die wissenschaftliche Literatur in wachsendem 
Maß der deutschen Sprache zu bedienen begann. 
Mit „Staatswissenschaft“ verdeutschte man an- 
fangs die Statistik im älteren Wortsinn, für die 
der deutsche Name Staatskunde bekannter ge- 
worden ist. So nennt z. B. Achenwall sein in der 
Geschichte der Statistik wohlbekanntes Werk „Ab- 
riß der neuesten Staatswissenschaft der heutigen 
vornehmsten europäischen Reiche und Republiken“ 
(1749). Schon die zweite Auflage (1752) führt 
jedoch den Titel „Staatsverfassung der Euro- 
päischen Reiche und Völker im Grundriß“".
	        
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