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sie nicht das individuelle Seelenleben berühren.
Staat und Gesellschaft sind keine Gegensätze, Ge-
sellschaft ist nur der allgemeine Begriff.
Der Ausdruck Gesellschaft kann aber auch als
Sammelbegriff gebraucht und dem Staat gegen-
übergestellt werden, er bezeichnet dann den In-
begriff menschlicher Zusammenhänge und Be-
ziehungen, die zwar innerhalb des Staats sich
finden, von ihm aber verschieden sind (Stände,
Berufsgruppen, Interessenverbände usw.). Die
einzelnen gesellschaftlichen Kreise haben ihr eignes
Leben, mit dessen Außerungen sie über die staat-
lichen Grenzen hinausreichen. Staat und Gesell-
schaft in diesem Sinn stehen nebeneinander.
G. v. Mayr gliedert die Gesellschaftswissenschaf-
ten 1) in die allgemeinen (Statistik, Soziallehre,
Soziologie), 2) in die besondern Gesellschafts-
wissenschaften (Erforschung einzelner Richtungen
gesellschaftlicher Beziehungen, z. B. Wirtschafts-
lehre, Erforschung einzelner sozialer Gebilde,
z. B. Staat, Erforschung besonderer ideeller Sekre-
tionen des gesellschaftlichen Lebens, z. B. Rechts-
wissenschaft), 3) in die Geschichte.
b) Staats= und Wirtschaftswissen-
schaften. Die Wirtschaftswissenschaft (Volks-
wirtschaftslehre) ist von Haus aus eine selbstän-
dige Wissenschaft, die der Erforschung einer be-
sondern Seite des menschlichen Gemeinlebens
dienen will. Sie bestimmt einmal die begrifflichen
Grundlagen und pflegt den Staat ganz und gar
nicht berührende theoretische Untersuchungen, sie
zieht ferner neben der Volks= bzw. Staatswirt-
schaft auch die andern wirtschaftlichen Spezial-
gebilde, die Hauswirtschaft, das private Unter-
nehmen in seinen verschiedenen Formen, Welt-
handel und Weltverkehr in den Kreis ihrer Be-
obachtung. Den Staatswissenschaften gehört also
die Wirtschaftswissenschaft im Grund genommen
nur insoweit an, als sie den Staat selbst und dessen
Unterverbände als Wirtschaftssubjekt ins Auge
faßt, soweit sie innerhalb der Volkswirtschaftslehre
eine Staatswirtschaftslehre aufstellt. Es sind also
von der Wirtschaftswissenschaft bzw. der Volks-
wirtschaftslehre namentlich die Gebiete der staat-
lichen Volkswirtschaftspolitik und der Finanz-
wissenschaft, welche in den Kreis der Staatswissen-
schaften gehören. Daß neben dieser Auffassung
eine andere, teilweise sogar offizielle Auffassung
besteht, welche die gesamte Nationalökonomie,
also auch die theoretische Volkswirtschaftslehre, zu
den Staatswissenschaften zählt, sie vielfach sogar
als ihr Hauptstück betrachtet, wurde oben schon
erwähnt.
c)Staats= und Rechtswissenschaf-
ten. Nicht das ganze Rechtswissen ist Staats-
wissen. Der Staat, meint Gierke, ist immer nur
der Gestaltgeber, nicht der Schöpfer des Rechts.
Recht und Macht sind aufeinander angewiesen,
aber sie sind nicht auseinander ableitbar, sondern
gleich ursprünglich und also einander ebenbürtig.
Am meisten selbständig ist das gesamte Privat-
Staatswissenschaften.
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recht, die eigentliche Mutter der Jurisprudenz.
Auch das Strafrecht, welches sich mit dem „Ver-
balten einzelner im Sinn der Wahrnehmung der
Staatsordnung“ (G. v. Mayr) befaßt und das
teils als Teil des öffentlichen Rechts betrachtet
wird, teils eine selbständige Zwischenstellung zwi-
schen Privatrecht und öffentlichem Recht zu-
gewiesen erhält, bildet keinen Teil der Staats-
wissenschaften. Dagegen gehören in den Kreis
der Staatswissenschaften sowohl wie der Rechts-
wissenschaften das Staatsrecht (einschließlich des
Verwaltungsrechts) und das Völkerrecht. Über
die Einbeziehung des (Staats-) Kirchenrechts
gehen die Ansichten auseinander. „Allerdings“,
führt Gierke weiter aus, „gibt es kein Rechts-
gebiet, das nicht irgendwie in das Gebiet der
Staatswissenschaften hineinreichte. Denn Objekt
der Staatswissenschaft ist die Lehre vom Verhalten
des Staats zum Rechtsleben, die wir Rechts-
politik nennen können. Und da der Staat kraft
seiner Gesetzgebungsgewalt befugt ist, die Rechts-
ordnung in allen ihren Teilen souverän zu ge-
stalten, und heute energischer als je von dieser Be-
fugnis Gebrauch macht, so erwächst insbesondere
in der Gesetzgebungspolitik der Staatswissenschaft
eine so gut das Privatrecht wie das öffentliche
Recht umspannende Aufgabe“ (Internationale
Wochenschrift (1910|] 492). ·
d) Staats- und Sozialwissenschaf—
ten. Wird die Bezeichnung Sozialwissenschaften
im Sinn von Gesellschaftswissenschaften an-
gewandt, dann gilt das unter a) Gesagte. Sozial-
wissenschaft wird jedoch auch in einem engeren
Sinn (sozial soviel wie ausgleichend) gebraucht.
Es werden dann die die „Soziale Frage“ behan-
delnden Gesichtspunkte aus den Staats= bzw.
Wirtschaftswissenschaften herausgehoben, es wird
ein besonderer Nachdruck auf das soziale Moment
gelegt. Bisweilen soll mit dieser Bezeichnung
jedoch auf einen Gegensatz hingewiesen werden
zwischen der Volkswirtschaftslehre (Staatswissen-
schaft), für welche nur die Gesetze der Produkti-
vität zu gelten hätten, und der Sozialwissenschaft
(Sozialpolitik), für welche ethische Leitmotive aus-
schlaggebend wären.
Der Begriff Staatswissenschaften hat seit
seinem Aufkommen verschiedene Wandlungen
durchgemacht. Das Wort „Staat“ wurde in
Deutschland erst im 18. Jahrh. gebräuchlich, als
sich die wissenschaftliche Literatur in wachsendem
Maß der deutschen Sprache zu bedienen begann.
Mit „Staatswissenschaft“ verdeutschte man an-
fangs die Statistik im älteren Wortsinn, für die
der deutsche Name Staatskunde bekannter ge-
worden ist. So nennt z. B. Achenwall sein in der
Geschichte der Statistik wohlbekanntes Werk „Ab-
riß der neuesten Staatswissenschaft der heutigen
vornehmsten europäischen Reiche und Republiken“
(1749). Schon die zweite Auflage (1752) führt
jedoch den Titel „Staatsverfassung der Euro-
päischen Reiche und Völker im Grundriß“".