Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

1407 
Verfassung von der großen Sobranje mit 326 
gegen 61 Stimmen angenommen; außer den rein 
sormalen, durch die Proklamation zum unab- 
hängigen Königreich notwendig gewordenen Ande- 
rungen hat die neue Verfassung einige neue Be- 
stimmungen bezüglich der Volksvertretung getroffen 
und den Einfluß des Königs auf die äußere 
Politik durch stärkere Ausschaltung des Parla- 
ments auf diesem Gebiet verstärkt. Die Sobranje 
besteht jetzt aus 213 in allgemeiner und direkter 
Wahl vom Volk auf 4 Jahre gewählten Mit- 
gliedern (1 auf 20 000 Einwohner), die große 
Sobranje aus 426; gewählt wurden im Sept. 
1911: 190 Nationalisten und liberale Fort- 
schrittler, 5 Agrarier, 7 Liberale, 6 National-= 
liberale, 1 Jungliberaler, 4 Demokraten. 
Die Volkszählung 1910 ergab eine Bevöl- 
kerung von 4329 108 Seelen, gegenüber 1887 eine 
Zunahme von 21,7% (bei den Christen ist die 
Zunahme stärker als bei den Mohammedanern, 
da von diesen viele seit Ende 1908 nach der 
Türkei ausgewandert sind). 
Neue Literatur. Bojan, Les Bulgares et le 
patriarche ##ecuménique (Par. 1906); R. v. Mach, 
Der Machtbereich des bulgar. Exarchats in der 
Türkei (1906); Weigand, Rumänen u. Aromunen 
in B. (1907); L. de Launay, La Bulgarie d’hier 
et de demain (Par. 1907); Leger, La Baulgarie 
(ebd. 1907); A. Chaunier, La Bulgarie, étude 
T’histoire diplomatique et de droit international 
(ebd. 1909); A. G. Drandar, La Bulgarie sous le 
Prince Ferdinand 1887/1908 (Brussel 1909); 
S. St. Stanimiroff, De la nationalité Torigine 
après la législature bulgare (Par. 1909); J. 
Simeonoff, Eisenbahnen u. Eisenbahnpolitik in 
B. (1909); W. Nikoltschoff, Das bulgar. Bil- 
dungswesen (1910); G. Scelle, L'indépendance 
bulgare (Par. 1910); W. Ruland, Geschichte der 
Bulgaren (1910); Statistisches Jahrbuch (1910 ff). 
Lins.) 
China. Am 14. Nov. 1908 starb der junge 
Schattenkaiser Kuang-hsü (geb. 1872, Kaiser seit 
1889), tags darauf seine Tante, die Kaiserin- 
Witwe Tsu-hsi, eine äußerst bedeutende Frau, die 
seit 1861 tatsächlich regiert hatte. Auf dem Thron 
solgte ihr zweijähriger Neffe Pu-ji (geb. 1906) 
mit der Regierungsbezeichnung Hsüan-kung unter 
Vormundschaft seines Vaters, des in Deutschland 
durch seine Sühnegesandtschaft (1901) bekannten 
Prinzen Tschun (geb. 1877). 
Der Sieg des kleinen Japan über das gewaltige 
Rußland hatte großen Eindruck gemacht und die 
fortschrittlichen Bestrebungen gestärkt. Neben dem 
nach berühmten Mustern geprägten Schlagwort 
„China für die Chinesen“ war der den aufstän- 
dischen Bewegungen gemeinsame Grundgedanke 
die Bekämpfung der Mandschudynastie. Eine 
Anzahl revolutionärer Verbrüderungen (die ein- 
flußreichste: Shan Li, „Helle Flamme"“), welche die 
namentlich im Süden des Reichs gegen die Man- 
dschus bestehende Strömung zum Ausdruck brachte, 
sorgte dafür, daß jeder sich bietende Anlaß zur 
China. 
  
1408 
Förderung ihrer Bestrebungen ausgenutzt wurde. 
Den neuen Ideen im Heer Eingang zu verschaffen, 
war das nicht ohne Erfolg betriebene Streben. 
Zahlreiche Anhänger wurden unter den Offizieren 
gewonnen, die es bitter empfanden, daß die Man- 
dschus eine ungewöhnlich bevorrechtete Stellung in 
der Armee und in der Verwaltung einnahmen. 
Systematisch wurde an der Aufklärung der Mann- 
schaften gearbeitet, denen die Zustände und die 
politische Stellung Chinas im Gegensatz zu dem 
Aufschwung Japans vor Augen geführt wurde. 
Die Gefahr dieser Agitation wurde an den leiten- 
den Stellen erkannt und war für die zwar streng 
autokratische, aber weitblickende Kaiserin-Witwe 
der Hauptgrund, ein innerpolitisches Reformwerk 
einzuleiten. In den Jahren 1905 und 1907 
wurden Kommissionen nach Japan, Europa und 
Amerika geschickt, um die parlamentarischen Ein- 
richtungen und die moderne Staatsverwaltung zu 
studieren. 1906 wurde eine Reform des Staats- 
wesens in Aussicht gestellt mit dem Endziel einer 
konstitutionellen Verfassung, sobald das Volk reif 
dafür sei. Gleichzeitig erging ein Edikt gegen den 
Opiumgenuß, der binnen 10 Jahren ganz abge- 
schafft sein sollte. Im Jahr 1907 folgte eine 
Reihe von Edikten, die den Staatsrat und die 
Zentralverwaltung reorganisierten, die allgemeine 
(bis jetzt allerdings nur in der Theorie bestehende) 
Schulpflicht einführten und zur Vorbereitung des 
Reichsparlaments, das 1916 ins Leben treten 
sollte, die Bildung von Provinziallandtagen aus 
den Notabeln der Provinz anordneten. Schon 
1906 wurde der bisherige Unterschied zwischen 
Mandschus und Chinesen bei Besetzung der Stellen 
der Zentralregierung aufgehoben und die Posten 
auf die Hälfte herabgesetzt, so daß jedes der Mini- 
sterien nur noch 1 Präsidenten und 2 Vizepräsi- 
denten zählte. 
Über der Regentschaft des Prinzen Tschun 
wurde die Reformpolitik der alten Kaiserin-Witwe 
fortgesetzt. Er sandte wiederum zwei Prinzen auf 
Studienreisen. Schon 1909 wurde der Ober- 
befehl über Armee und Marine dem Kaiser über- 
tragen, der Regent mit dessen Vertretung betraut 
und eine beratende Behörde geschaffen, aus der 
sich ein Generalstab entwickeln sollte. Die Skla- 
verei wurde abgeschafft, eine Volkszählung fand 
statt, ein neues Strafrecht und besondere Gerichts- 
höfe wurden geschaffen. Dem trotz allem unge- 
stümen Drängen der Reformpartei suchte man 
1910 entgegenzukommen durch Einberufung eines 
„Reichsausschusses“ (später meist Nationalver- 
sammlung genannt), einer vorwiegend von der 
Regierung bestellten Vertreterschaft des ganzen 
Reichs, der die Aufgabe zugewiesen war, den 
Reichstag vorzubereiten und später diesem gegen- 
über eine Art Oberhaus als Stütze der Regierung 
zu bilden. Diese Körperschaft zeigte aber bald 
eine für die Pekinger Autokraten erschreckende 
Selbständigkeit und Neigung zu einem unbeding- 
ten Parlamentarismus. Die Beschlüsse und Be-
	        
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