Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

1409 
strebungen der einzelnen Provinziallandtage fanden 
hier ihre Zentrale und übten vor den Augen des 
ganzen Reichs eine unerbittliche Kritik an der 
Reichsregierung. Man forderte ein regelrechtes, 
verantwortliches Ministerium an Stelle des unnah- 
baren und unkontrollierbaren Staatsrats, und 
erneuerte die Forderung nach einem früheren 
Termin der Parlamentseröffnung. Am 5. Nov. 
1910 verkündete ein kaiserliches Edikt die Ein- 
berufung des Reichstags für 1913, also drei 
Jahre früher als festgelegt. Das Edikt vom 
8. Mai 1911 beseitigte den Staatsrat und das 
Großsekretariat (ogl. Art. China Bd I, Sp. 1118) 
und schuf ein verantwortliches Kabinett mit dem 
Prinzen Tsching als Premierminister. 
Im Herbst 1911 kam neben der streng natio- 
nalen (China den Chinesen) und mandschufeind- 
lichen Strömung noch eine in großer Stille vor- 
bereitete republikanische Bewegung zum Durch- 
bruch (Führer Sun-Jat-Sen), die für China eine 
bundesstaatliche Verfassung nach amerikanischem 
Muster erstrebte. Es brach eine bald den ganzen 
Süden umspannende, gut organisierte Militär- 
revolution aus, der die Mitglieder der National- 
versammlung nicht fern standen. Die meisten 
Provinzen erklärten ihre Unabhängigkeit von der 
Zentralregierung in Peking. In ihrer größten 
Not berief der Hof den 1909 wegen seiner Tüch- 
tigkeit verbannten Staatsmann Juanschikai ans 
Ruder, der anfangs zögerte, dann sich mit dikta- 
torischen Vollmachten ausstatten ließ und nun eine 
unklare Vermittlerrolle zwischen dem Hof und den 
Aufständischen spielte. Der Hof erließ eine An- 
zahl Edikte, in denen er sich als schuldig an den 
bestehenden Mißständen und den durch diese her- 
vorgerufenen Ereignissen bezeichnete und Abhilfe 
versprach. Ein Edikt vom 2. Nov. ermächtigte 
die Nationalversammlung zur Ausarbeitung einer 
Verfassung, sie wurde bald darauf vorgelegt und 
enthielt in 19 Fundamentalartikeln die Forderung 
einer konstitutionellen Monarchie mit dem Kaiser 
als reinem Dekorationsstück, eine parlamentarische 
Regierung unter einem Präsidenten, verantwort- 
lichem Kabinett usw. Alle diese Zugeständnisse 
hielten das Fortschreiten der Revolution jedoch 
nicht auf. Prinz Tschun sah sich gezwungen, die 
Regentschaft niederzulegen. Peking war bedroht, 
der Hof dachte an Flucht. Juanschikai schloß mit 
der revolutionären Armee einen Waffenstillstand 
und leitete Verhandlungen ein. Die Forderung 
lautete auf Abdankung der Monarchie und Ein- 
führung der Republik. Am 17. Jan. 1912 wurde 
dann auch von den kaiserlichen Prinzen die Ab- 
dankung der Mandschudynastie beschlossen. Juan- 
schikai und Sun-Jat-Sen sollen über die Bildung 
einer neuen Regierung beraten. Dem Kaiser soll 
nach der Abdankung der Titel „Kaiser der Man- 
dschus“ (nicht Kaiser von China) belassen werden, 
der Hof jährlich 5 Mill. Taels Pensionen erhalten, 
der Kaiserin-Witwe Lung-Jü sollen besondere 
Ehren bezeugt werden, weil sie die Witwe des 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
Deutsches Reich. 
  
1410 
Kaisers Kuang-hsü ist, des ersten Reformators 
unter den chinesischen Kaisern (tatsächlich war dieser 
Schwächling ohne jeden Einfluß). 
Die weitere Entwicklung der Dinge läßt sich zur- 
zeit (Jan. 1912) nicht übersehen. Die Stellung der 
Mächte ist noch nicht geklärt. Mit territorialen Er- 
werbungen rechnen Japan (südliche Mandschurei) 
und Rußland (nördliche Mandschurei und Mongo- 
lei). Zur Sicherung von Leben und Eigentum der 
Fremden haben die Mächte Vorkehrungen ge- 
troffen, doch hat bis jetzt, abgesehen von Einzel- 
fällen, die Revolutionspartei über die Durch- 
führung der bei Beginn der Kämpfe erlassenen 
Anordnungen: Schutz des Privateigentums und 
des gewöhnlichen Volkes, Schutz den Fremden und 
den Missionen, Freiheit des Handels, gewacht. 
Literatur. J. O. P. Bland u. E. Backhouse, 
China under the Empress-Dowager (Lond. 1910), 
deutsch von F. v. Rauch; C. unter der Kaiserin- 
Witwe; Die Lebens= u. Zeitgeschichte der Kaiserin 
##st (1911); Tso-Tschun-Tschon, Die Reformen 
des chines. Reichs in Verfassung, Verwaltung u. 
Rechtsprechung (1909, Berliner Diss.); Ritter v. 
Ursyn Pruszynski, Grundelemente der neuen chines. 
Staatsform (Wien 1911; nach russ. Quellen); 
Ku Hung-Ming, Cs Verteidigung gegen europ. 
Ideen, Kritische Aufsätze (Jena 1911); A. J. Sar- 
gent, Anglo-Chinese Commerce and Diplomacy 
(Oxford u. Lond. 1907); W. Koch, Die Industriali- 
sierung C.3 (1910); Wassiljew, Die Erschließung 
C.3, deutsch von Rud. Stübe (1910); Lauterer, C., 
das Reich der Mitte, einst u. jetzt (1910); v. Brandt, 
Der Chinese in der Offentlichkeit u. der Familie 
(1912). [Red.] 
Deutsches Reich. Die Volkszählung 
vom 1. Dez. 1910 hatte folgendes Ergebnis (siehe 
Tabelle auf Sp. 1411). 
Die Bevölkerung ist im letzten Jahrfünft um 
4284 504 oder um 7,07 % gewachsen. Im Jahr- 
fünft 1900/05 betrug die Bevölkerungszunahme 
4274 311 oder 7,58 %. Auf je 100 mämmliche 
Personen kamen im Jahr 1910 102,6 weibliche. 
Im Verhältnis zur mittleren Einwohnerzahl 
war die durchschnittliche jährliche Zunahme von 
1905/10: 13,6 % % der Bevölkerung, dagegen im 
Jahrfünft 1900/05: 14,6 % 0 und im Jahrfünft 
1895/1900: 15,1 /% . An der Zunahme im Zeit- 
raum 1905/10 waren alle Gebietsteile des Reichs 
beteiligt. Am stärksten war die durchschnittliche 
jährliche Zunahme im Regierungsbezirk Potsdam 
(40,82 %0 der mittleren Bevölkerung), im Staat 
Hamburg (29,53), im Regierungsbezirk Düsseldorf 
26,79), im Staat Bremen (25,64) und im Re- 
gierungsbezirk Arnsberg (25,43). Sehr gering 
war das Wachstum im Regierungsbezirk Gum- 
binnen (0,79 % der mittleren Bevölkerung), in 
Anhalt (1,88), in Oberelsaß (2,25), in der Stadt 
Berlin (3,03), im Regierungsbezirk Stettin (3,28), 
in Braunschweig (3,42), im Regierungsbezirk 
Magdeburg (3,74) und im Jagstkreis in Württem- 
berg (3,85). 
Die Zählung der zur Wohnung dienenden oder 
bestimmten Baulichkeiten ergab insgesamt 
7136 023 Gebäude und sonstige Baulichkeiten, und 
zwar 6 864 501 bewohnte Wohnhäuser, 157694 
45 
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.