Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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schriften aufgenommen wurde die Bestimmung, 
daß die amtliche Geschäftssprache der Behörden 
und öffentlichen Körperschaften, sowie die Unter- 
richtssprache in den Schulen des Landes die deut- 
sche ist. In Landesteilen mit überwiegend Fran- 
zösisch sprechender Bevölkerung können auch ferner- 
hin Ausnahmen zugunsten der französischen 
Geschäftssprache nach Maßgabe des elsaß-lo- 
thringischen Gesetzes betr. die amtliche Geschäfts- 
sprache, vom 31. März 1872 zugelassen werden. 
Desgleichen kann der Statthalter den Gebrauch 
des Französischen als Unterrichtssprache entspre- 
chend der bisherigen Ubung auf Grund des § 4 
des elsaß-lothringischen Gesetzes betr. das Unter- 
richtswesen vom 12. Febr. 1873 auch fernerhin 
zulassen. 
Die Wahlen zur Zweiten Kammer (Herbst 
1911) ergaben: 26 Zentrum, 10 Unabhängige 
Lothringer, 12 Liberale, 11 Sozialdemokraten, 
1 Fraktionslosen. 
Literatur. J. F. Heine, Das elf lothr. Ver- 
fassungsgesetz vom 31. Mai 1911 nebst dem Wahl- 
gesetz usw., mit Vorwort von W. Kisch (2 Liefe- 
rungen, 1911); A. Schulze, Die Verfassung u. das 
Wahlgesetz für E.-L. erläutert (1911); H. Rehm, 
Das Reichsland E.-L. (1911, Vorträge der Gehe- 
stiftung IV, Hft 1). [Red.) 
Freirechtslehre. Daß der Richter an das 
Gesetz gebunden ist, ist als Grundsatz zu allen 
Zeiten und bei allen Völkern, die überhaupt zu 
einer Gesetzgebung kamen, festgehalten worden; 
die Bindung war aber durchaus nicht immer und 
nicht überall die gleiche. Wo Gesetzgebung und 
Rechtsprechung in derselben Hand lagen, wie bei 
den Königen des Altertums, den Volksversamm- 
lungen in Athen und im alten Rom, dem Landes- 
thing in den germanischen Staaten, den römischen 
Kaisern (jedenfalls seit Diokletian) und den Lan- 
desherren des Absolutismus, verstand es sich von 
selbst, daß die Rechtsprechung sich an das Gesetz 
nicht hielt, wenn dessen Vorschriften nicht zweck- 
mäßig erschienen. Aber auch da, wo die beiden 
Aufgaben getrennt waren, führte die Ungenauig- 
keit und Mangelhaftigkeit der Gesetze, vielfach auch 
die Schwierigkeit, zuverlässige Kenntnis von ihnen 
zu erlangen, in früheren Zeiten allenthalben dazu, 
in den Gesetzen zwar Leitsätze, aber keineswegs 
zwingende Vorschriften für die Rechtsprechung zu 
erblicken. Die Entwicklung läßt sich in der römi- 
schen wie in der deutschen Rechtsgeschichte ver- 
folgen. Der römische Prätor, dem die Prüfung 
oblag, ob ein erhobener Anspruch im Gesetz be- 
gründet war, benutzte seine Befugnis, dem Richter, 
an den er die Sache zur Entscheidung verwies, 
Weisungen hinsichtlich der Gesetzesanwendung zu 
geben, dazu, um Ansprüche als gesetzlich begründet 
anzuerkennen, für die sich im Gesetz keine oder 
nur unsichere Stützpunkte fanden, schließlich sogar 
dazu, veraltete oder zweifelhafte Gesetze bei seinen 
Anweisungen an den Richter unbeachtet zu lassen. 
So gab es prätorische Rechtsschöpfungen secun- 
Freirechtslehre. 
  
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dum legem, praeter legem, contra legem. 
Im deutschen Reich nach der Frankenzeit mußte 
schon der Umstand, daß die Gesetzbücher, soweit 
solche sich fanden, lateinisch abgefaßt waren, die 
aus dem Volk genommenen Richter (Schöffen) 
aber die fremde Sprache nicht allgemein beherrsch- 
ten, zur Folge haben, daß die Rechtsprechung sich 
wenig an die Gesetze hielt. Seit dem Anfang des 
11. Jahrh. sind diese alten Gesetze völlig außer 
Ubung gekommen; an ihre Stelle trat Gewohn- 
heitsrecht, das dann vom Ende des 12. Jahrh. 
an wieder in Rechtsbüchern (Sachsenspiegel, 
Schwabenspiegel usw.) zusammengefaßt wurde. 
Alle diese Rechtsbücher waren Privatarbeiten und 
darum für die Gerichte unverbindlich. Auch das 
römische Recht, das im Laufe der nächsten Jahr- 
hunderte immer mehr Eingang bei uns fand, 
wurde zunächst nur als nützliche, keineswegs aber 
als verbindliche Rechtsquelle angesehen und be- 
handelt, wenn es auch im Jahr 1495 dem Reichs- 
kammergericht als in der Regel maßgebende Norm 
vorgeschrieben wurde. Die gleiche Auffassung war 
ursprünglich auch bei der wissenschaftlichen Be- 
handlung des römischen Rechts herrschend; wie 
alle griechischen Teile des Corpus juris unbeachtet 
blieben (Gracca non leguntur), so ließ man auch 
andere Stellen außer Bearbeitung, von denen man 
annahm, daß sie zufolge der Veränderung der 
Verhältnisse ihre Bedeutung verloren hätten. Auf 
diese Weise bildete sich ein usus modernus Pan- 
dectarum heraus, der die Anwendung des römi- 
schen Rechts so ziemlich in das freie Ermessen des 
Richters stellte. Daß während des Vorherrschens 
der naturrechtlichen Schule im 17. und 
18. Jahrh. die Wertung der Gesetze noch weiter 
sank und schließlich der Satz aufgestellt wurde, 
daß der Richter positives Recht, das sich mit den 
naturrechtlichen Grundsätzen nicht im Einklang 
befindet, als nichtig behandeln darf, erscheint als 
folgerichtige Entwicklung. Damit war aber auch 
der ganze Gedankengang über das vernünftige 
Ziel hinausgeführt und ein Rückschlag mußte schon 
deshalb erfolgen, weil das Recht der Vernunft, 
das so geschaffen werden sollte, schließlich doch 
nichts anderes war als das völlig freie Empfinden 
des Richters. Dieser Rückschlag trat ein mit den 
großen Gesetzessammlungen um die Wende des 
18. und 19. Jahrh. Scheinbar waren sie Triumphe 
der naturrechtlichen Schule, deren Anforderungen 
in ihnen ausdrückliche und rückhaltlose Billigung 
fanden; in Wahrheit hörte die Vorherrschaft des 
Naturrechts mit ihnen auf, denn diese neuen, sehr 
ausführlichen Gesetze beanspruchten nun für die 
Zukunft unbedingte und genaueste Beachtung durch 
die Richter. Von größtem Einfluß nach dieser 
Richtung war namentlich die von Montesquien 
zwar nicht erfundene, aber in klare Form gebrachte 
Lehre von der Teilung der Staatsgewalt in die 
Funktionen der Gesetzgebung, der Rechtsprechung 
und der Verwaltung, die trotz ihrer inneren Feh- 
ler als organisatorisches Prinzip weithingreifende
	        
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