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Der Ausdruck Staatswissenschaft wird im
18. Jahrh. und weit hinein ins 19. Jahrh. ferner
angewandt für Kameralwissenschaft, also für die
Summe jener Kenntnisse, die zur Verwaltung der
fürstlichen Kammersachen erforderlich waren. Da-
hin gehörten namentlich die heutige Volkswirt-
schaftspolitik, die staatliche Finanzwissenschaft, die
sog. Polizeiwissenschaft, serner Technologie und
private Okonomie (Haushaltslehre). Bisweilen
wurde auch nur die Polizeiwissenschaft (der Aus-
druck Polizei ist hier im ursprünglichen Wortsinn:
Staat, Staatsverwaltung, Obrigkeit gebraucht),
die Lehre von der Verwaltung einschließlich der
Wirtschaftspolitik und Wohlfahrtspflege, als
Staatswissenschaft bezeichnet (z. B. im Begriff
Kameral= und Staatswissenschaften). Für Kame-
ralwissenschaft bürgerte sich auch die Bezeichnung
„Politische Okonomie“ (das Wort politisch hier
gleichfalls in der ursprünglichen Bedeutung: staat-
lich gebraucht) und die Verdeutschungen dieses
Ausdrucks: Staatsökonomie, Staatswirtschafts-
kunst, und ganz besonders Staatswirtschaftslehre
ein. Es sind fast ausschließlich praktische, nament-
lich „staatswirtschaftliche“ Wissenszweige, welche
im 18. Jahrh. den Staatswissenschaften zugezählt
wurden. Die Behandlung theoretischer Fragen
stand noch ganz im Hintergrund. Nur vereinzelt
finden sich Ansätze zur Pflege der staatsrechtlichen
und spekulativ philosophischen Wissenszweige in
der sog. Politik, d. h. der Lehre vom Staat, seiner
Entstehung, seinen Formen und Zwecken, und den
Mitteln, diese zu erreichen (die Bezeichnung Po-
Utik besagt also das gleiche wie Staatslehre, sie
hat hier nicht die Bedeutung von Staatsklugheits-
lehre oder Staatskunst).
Gegen Ende des 18. Jahrh. vollzieht sich ein
gewaltiger Umschwung im Geistesleben, eine er-
weiterte Forschung und eine Spezialisierung der
verschiedenen Wissenszweige setzt ein. Die nach
Deutschland verpflanzten Ideen Rousseaus und
der französischen Enzyklopädisten, die philosophi-
sche Betrachtung von Staat und Recht durch Kant
und Fichte, später auch durch Hegel, die von
Möser. Eichhorn usw. festgestellte historische Auf-
sassung des Rechtslebens führen zu neuen wissen-
schaftlichen Gesichtspunkten. Das Staals- und
Verwaltungsrecht, bisher nur vereinzelt als be-
sonderer Wissenszweig behandelt, wird jetzt all-
gemein gesondert, der Staatsphilosophie wird er-
höhte Beachtung geschenkt. Das volkswirtschaft.
liche System des Schotten Adam Smith findet
auch in Deutschland Eingang. Es bringt die
klaren Begriffe und die volkswirtschaftliche Theorie,
gleichzeitig aber auch den Individualismus im
Wirtschaftsleben. An Stelle der „Stoatswirt-
schaft“, in welcher der sog. Polizeistaat Lenker
der privatwirtschaftlichen Angelegenheiten ist, sich
bei dieser Aufgabe jedoch mit Vorliebe von den
rein staatlichen Finanzinteressen leiten läßt, tritt
die „Volkswirtschaß“, in welcher Freiheit der
Person und des Eigentums, des Gewerbes und
Staatswissenschaften.
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des Verkehrs besteht. So wird aus der „Politi-
chen Okonomie“ die „Nationalökonomie“, aus
der „Staatswirtschaftslehre“ die „Volkswirt-
schaftslehre“, welche man lediglich als eine
„Theorie verständigen Eigennutzes“ betrachtet und
aus dem Kreis der Staatswissenschaften aus-
schließt. Hand in Hand mit der geistigen Um-
wälzung geht in den ersten Jahrzehnten des
19. Jahrh. die gewaltige politische Bewegung, die
ihre starken Wurzeln in der großen französischen
Revolution hat und auf Beseitigung des staat-
lichen Absolutismus und der ständischen Staats-
gliederung, auf Schaffung einer konstitutionellen
Staatsgrundlage, auf nationale Einigung ge-
richtet ist. Aus diesem Geist heraus vollzieht sich
in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. eine Um-
bildung des Begriffs Staatswissenschaften. In
den Vordergrund treten die allgemeinestaatsrecht-
lichen und naturrechtlich-politischen Probleme, zu
denen ergänzend die Staatengeschichte tritt. Das
Interesse an diesen Fragen beschäftigt nicht nur Ge-
lehrte und Staatsmänner, es dringt durch eine
äußerst zahlreiche wissenschaftliche Literatur verbrei-
tet in die Kreise des gebildeten Bürgertums und,
popularisiert durch die Tagespresse und Bildungs-
vereine, auch in die unteren Volksschichten. Kein
Zufall ist es, daß die Mehrzahl der Männer,
welche in der staatswissenschaftlichen Literatur sich
einen Namen erworben haben, auch im politischen
Leben, im Kampf um die staatsbürgerlichen Rechte
eine Rolle spielen.
—
Eine Gliederung der Staatswissenschaften gibt
u. a. Friedrich Bülau (Enzyklopädie der Staats-
wissenschaften (1832, 21856)); er unterscheidet:
I. Wissenschaften des innern Staatslebens: 1) die
allgemeine Staatslehre, 2) die Geschichte des euro-
päischen Staats, 3) die Darstellung der öffentlichen
Einrichtungen der europäischen Staaten, 4) Statistik
(Staatskunde), 5) die Politik (und zwar als Ver-
fassungspolitik und als Verwaltungspolitik, unter
letzterer u. a. auch Volkswirtschaftspflege). — II. Wis-
senschaften des äußern Staatslebens: 1) das philo-
sophische Staatenrecht, 2) die Geschichte des euro-
päischen Staatensystems, 3) das praktische euro-
päische Völkerrecht, 4) das positive Staatenrecht,
5) die Staatenpolitik.
Wohl der bedeutendste unter den Systematikern
der Staatswissenschaften seiner Zeit ist Robert
Mohl. Er gliedert (Enzyklopädie der Staatswissen-
schaften (1859)) wie folgt: l. Dogmatische Staats-
wissenschaften: 1) Allgemeine Staalslehre: 2) öffent-
liches Recht: A. Staatsrecht, a) philosophisches,
b) positives; B. Völkerrecht, a) philosophisches,
b) positives; 3) Staatssittenlehre; 4) Staatskunst
(stoffliche Grundlagen; politische Psychologie; in-
nere Staalskunst lalso Verfassungs= und Verwal-
tungspolitik, letztere: Organisationslehre, Justiz-
politik, Polizeiwissenschaft, Finanzwissenschafts,
auswärtige Politik). — II. Historische Staats-
wissenschaften: 1) Staatengeschichte; 2) Statistik.
Gleichfolls eine beachtenswerte Gliederung der
Staatswissenschaften bietet J. C. Bluntschli in dem
Art. „Staatswissenschaft“ in seinem Staatswörter-
buch. Er unterscheidet solgende „eigentliche Staats-