1423
Bedeutung gewann. Indem hiernach die Rechtspre-
chung auf das Gebiet der Rechtsanwendung be-
schränkt, die Rechtsschöpfung ausschließlich der
Gesetzgebung zugewiesen wurde, ergab sich von
selbst eine völlige Unterwerfung des Richters unter
das Gesetz, so daß die Naturrechtslehre, indem sie
zeitweise die Befugnis des Richters überspannte,
ihn schließlich in eine unfreiere Stellung brachte,
als er sie jemals innegehabt. Der Widerspruch
ergab sich daraus, daß die Grundlage der ganzen
Lehre, die Annahme einer allgemein gültigen, für
alle Fälle zutreffenden und durch Vernunftschlüsse
erkennbaren Rechtsordnung falsch war. Diesen
Irrtum deckte die historische Schule, die das
19. Jahrh. beherrschte, durch den Nachweis auf,
daß jede Rechtsordnung nur ein Versuch ist, die
Beziehungen der in einer Rechtsgemeinschaft leben-
den Menschen untereinander und zur Gemeinschaft
selbst so zu regeln, daß möglichst wenig Streit
entsteht, daß aber alle diese Versuche unter der
Unzulänglichkeit menschlicher Voraussicht leiden
und darum, sie mögen noch so sorgfältig ausge-
baut werden, doch immer Stückwerk bleiben. Da-
rum schätzte diese Richtung das Gewohnheitsrecht,
das sich aus der übereinstimmenden Auffassung
der Rechtsgenossen herausbildet, höher als das
Gesetzesrecht, das — auch bei Mitwirkung der
Volksvertretung — in der Hauptsache doch nur
der Niederschlag der Meinungen jener Personen
ist, in deren Händen die Ausarbeitung der Gesetze
liegt. Hieraus hätte sich eine weitgehende Frei-
stellung der Nichter ergeben müssen, wenn nicht
eine einseitige Hinneigung zum römischen Recht
und eine gewaltige Uberschätzung seiner Bedeutung
diese richtigen Erwägungen durchkreuzt und viel-
fach in ihr Gegenteil verkehrt hätte. In geradem
Widerspruch zu dem Grundsatz, daß durch das
Gewohnheitsrecht auch das Gesetzesrecht überwun-
den werden kann, wurden die römischen Rechts-
quellen nicht mehr als Ausgangspunkt des gelten-
den Rechts, sondern vielmehr als das geltende
Recht behandelt und ihr auf dem Weg philologi-
scher Ausdeutung gewonnener Inhalt selbst gegen-
über lang eingebürgertem Gewohnheitsrecht als
die maßgebende Norm vertreten und zur Geltung
gebracht. Völlig vergessene Rechtsbildungen wur-
den wieder ausgegraben; ja man sah darin ein
ganz besonderes Verdienst, da ja das Haupt der
Schule, Savigny, selbst in der Auffindung ver-
gessenen Stoffes die wichtigste wissenschaftliche
Arbeit sah. Die von der naturrechtlichen Schule
als Folge der Teilung der Gewalten anerkannte
Unterwerfung der Richter unter das Gesetz wurde
so von der historischen Schule nicht überwunden,
sondern durch die Mehrung der Vorschriften, die
für die Richter bindend sein sollten, noch erheblich
verschärft. Als Ideal erschien ein Zustand, in
dem für jede denkbare Verwicklung der Lebensver-
hältnisse eine gesetzliche Lösung vorgesehen war und
die Aufgabe des Richters sich darauf beschränkte,
diese Lösung zu ermitteln und zu verkünden.
Freirechtslehre.
1424
So kam man, von der Vorschrift des Code
Napoléon ausgehend, daß der Richter eine Ent-
scheidung nicht mit der Begründung verweigern
dürfe, daß das Gesetz keine Vorschrift dafür ent-
halte, zu dem Dogma von der Lückenlosig-
keit der Gesetze. Ihre logische Expansions-
kraft sollte ausreichen, in jedem Augenblick den
ganzen Bedarf von Rechtsurteilen zu decken. Die
Persönlichkeit des Richters schied völlig aus; sein
Wille war gleichgültig; nur sein Wissen galt; er
war, da sich seine Tätigkeit in Schlußfolgerungen
von den Tatsachen auf die Gesetze erschöpfte, nur
ein Subsumtionsautomat. Da vielfach die ge-
setzlichen Vorschriften nur mühsam der Sachlage
anzupassen waren, gleichwohl aber die Entschei-
dungen aus dem Gesetz begründet werden mußten,
gewann unter dem Einfluß dieser Lehre die Recht-
sprechung vielfach einen gekünstelten, ja nahezu
unehrlichen Charakter. Der Widerstand gegen
diesen Zwang ging seltsamerweise nicht von den
Richtern, sondern von den Rechtslehrern aus.
Ihering bekämpfte scharf und nachhaltig die Be-
griffsjurisprudenz und betonte ihr gegenüber die
Notwendigkeit, die gesetzlichen Vorschriften nach
ihrem Zweck auszulegen und sich hiernach auch bei
ihrer Anwendung zu richten. Bülow zeigte, daß
der rechtsordnende Wille der Staatsgewalt in den
Gesetzen nur mangelhaft zum Ausdruck komme
und seine Vollendung erst durch die Entschei-
dungen der Gerichte finde. Dernburg, Wach,
Kohler, Rümelin sprachen ähnliche Gedanken
aus. Sie blieben aber vereinzelt und hatten keinen
Einfluß. Es bedurfte stärkerer Anstöße, um die
Angelegenheit zum Gegenstand allgemeiner Er-
örterung zu machen. Kantorowich ließ 1906
unter dem Pseudonym Gngeus Flavius ein Buch
erscheinen, das den Titel führte: „Der Kampf um
die Rechtswissenschaft“. Hier erschien, was bisher
mehr als Theorie aufgetreten war, mit aller Ent-
schiedenheit als praktische Forderung. Seitdem
spricht man von einer Freirechtslehre. Es
handelt sich hierbei nur um einen neuen Namen
für alte Dinge. Wenn man unter Freirechtslehre
die Doktrin versteht, daß der Richter, wenn die
Anwendung des Gesetzes ihn zu einem nach seiner
Überzeugung ungerechten Urteil führt, das Recht
hat, das Gesetz unbeachtet zu lassen und nach
seiner Uberzeugung zu entscheiden, so finden wir
diese Auffassung schon zur Zeit der naturrechtlichen
Schule vertreten. Daß damals dem Richter der
Weg, wie er zu dieser Erkenntnis kommen konnte,
freigegeben blieb, während ihm jetzt die Ab-
wägung der sich widersprechenden Interessen als
die zuverlässig richtige Methode bezeichnet wird,
ist nur ein äußerlicher Unterschied, der sich aus
dem Gegensatz zwischen der vorwiegend philo-
sophischen Geistesrichtung jener Zeit und der vor-
wiegend wirtschastlichen Prägung der Gegenwart
ergibt. Dazu kommt aber, daß die Vertreter der
Freirechtslehre keineswegs entschieden und be-
stimmt für eine so weitgehende Freistellung des