Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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nehmste Aufgabe. Der Sinn für die Zusammen— 
hänge der Rechtsprechung mit dem wirtschaftlichen 
Leben muß gestärkt werden, daß nicht in forma- 
listischem Fleiß Zeit und Kräfte für Dinge ver- 
schwendet werden, die es nicht wert sind. 
Auch hier sind die Grenzen der Freirechtslehre 
fest gezogen; es ist insbesondere die Notwendig- 
keit bestimmter Vorschriften für die gleichmäßige 
Beurteilung und Behandlung gleichartiger Ver- 
hältnisse entschieden betont. In diesen Grenzen 
kann die Freirechtslehre ersprießlich wirken; dar- 
über hinaus wird sie keine Erfolge haben. Daß 
von ihr eine völlige Umwälzung der Rechtsprechung 
erwartet wurde, beruhte auf einer Überschätzung. 
Es hat sich immer nur um Einzelmeinungen ge- 
handelt, wenn sie auch viel Richtiges und Beachtens- 
wertes enthielten; von einer Freirechtsschule oder 
gar von einer Freirechtsbewegung konnte niemals 
im Ernst die Rede sein. 
Literatur. Die kleineren Schriften u. die ver- 
schiedenenorts verstreuten Aufsätze sind von Hede- 
mann im Archiv für Bürgerliches Recht (XXXNI 
296 u. XXXIV 115) übersichtlich zusammengestellt 
u. gewürdigt. An größeren Schriften sind zu er- 
wähnen: Bülow, Gesetz u. Richteramt (1885); 
Kantorowicz (Gnaeus Flavius), Der Kampf um 
die Rechtswissenschaft (1906); Rumpf, Gesetz u. 
Richter (1906); ders., Volk u. Recht (1910); Fuchs, 
Schreibjustiz u. Richterkönigtum (1907); derfs., 
Recht u. Wahrheit in der heutigen Justiz (1908); 
ders., Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven 
Jurisprudenz (1909); Danz, Die Auslegung der 
Rechtsgeschäfte (21911); Oertmann, Gesetzeszwang 
u. Richterfreiheit (19;09); Stampe, Die Freirechts- 
bewegung (1911). (Niß.] 
Griechenland. Die innere und äußere 
Politik des Landes ist seit Ende 1908 beeinflußt 
durch die kretische Frage und das Verhältnis 
zur Türkei. Als Kreta im Okt. 1908 anläßlich der 
Annexion von Bosnien und der Hercegovina durch 
Osterreich-Ungarn und der Selbständigkeitserklä- 
rung Bulgariens sich ebenfalls für unabhängig 
von der Türkei erklärte und seinen Anschluß an 
Griechenland proklamierte, wagte die griechische 
Regierung weder die Vereinigung anzunehmen 
noch mit Rücksicht auf die Stimmung des Volks 
Griechenland. 
  
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und gegen die Prinzen des Königlichen Hauses; 
unter der Leitung des Obersten Zorbas bildete 
sich ein Bund der mißvergnügten Offiziere, der 
schon im Juli 1909 den Befehlen des Platz- 
kommandanten von Athen keine Folge leistete. 
Als im August die Regierung des Ministerpräsi- 
denten Ralli, der am 20. Juli an Stelle des seit 
1905 am Ruder befindlichen Theotokis getreten 
war, vor einer Drohnote der Türkei vom 5. Aug. 
einen diplomatisch kaum verhüllten Rückzug an- 
treten und erklären mußte, die auf die Abtrennung 
von der Türkei gerichteten Bestrebungen der Kreter 
nicht ermutigen zu wollen, kam die drohende 
Militärrevolution zum Ausbruch. Als eine 
Abordnung der Offiziere des Heers und der Flotte, 
die eine Zusammenstellung ihrer Beschwerden und 
Forderungen überreichen wollte, vom Minister- 
präsidenten nicht empfangen wurde, bezog ein Teil 
der Garnison von Athen unter Führung des 
Obersten Zorbas ein Lager außerhalb der Haupt- 
stadt und erzwang am 28. Aug. den Rücktritt des 
Kabinetts. Der mit der Bildung eines neuen 
Kabinetts beauftragte Mawromichalis verkündete 
am folgenden Tag eine Amnestie für die Soldaten, 
die sich an der Demonstration beteiligt hatten, 
versprach Reformen in der Verwaltung und den 
Staatsausgaben und Erfüllung der Forderungen 
des Heers; letztere bezogen sich namentlich auf 
Wiederherstellung der zweijährigen Dienstzeit, Er- 
höhung der Friedenspräsenzstärke, Aufhebung des 
Generalkommandos, Entfernung der königlichen 
Prinzen aus demaktiven Dienst, Reorganisation des 
Heers durch einen fremden General, Reformen in 
der Verwaltung des Heers und der Marine usw. 
Das am 3. Sept. gebildete Kabinett Mawro- 
michalis war tatsächlich ganz beherrscht vom Offi- 
ziersbund, der seither eine Militärdiktatur aus- 
übte, die Reform des Staatswesens, des Heers 
und der Marine selbst in die Hand nahm und 
von einem Sturz der Dynastie nur mit Rücksicht 
darauf Abstand nahm, daß der König wegen seiner 
weitreichenden verwandtschaftlichen Beziehungen 
dem Land wesentliche Dienste leisten konnte. Am 
11. Sept. mußte der Kronprinz sein General- 
kommando niederlegen, am 1. Okt. nahmen die 
sie offen abzulehnen. Grund zu diesem Verhalten 1 Prinzen Nikolaus und Christoph ihre Entlassung. 
war neben den Abmahnungen der kretischen Schutz= am 20. Okt. trat Prinz Georg als Vizeadmiral 
mächte, welche den Schrikt der Kreter zwar nicht zurück. Die drei Gesetze über militärische Reformen 
billigten, aber auch keine energischen Maßregeln wurden am 20. Okt. von der Kammer unter dem 
zu seiner Verhinderung trafen, der entschiedene Druck des Militärs nach den Forderungen Zorbas' 
Widerstand der Türkei, die um jeden Preis ihre 1 angenommen: die Kriegsstärke sollte auf 450 000 
Souveränität über Kreta aufrecht zu halten ent- Mann gebracht und die Kosten dafür durch Be- 
schlossen war, und die Erkenntnis der militärischen schneidung des diplomatischen Dienstes (Auf- 
Schwäche Griechenlands, das wegen Geldmangel hebung aller Gesandtschaften bis auf zwei), der 
die Präsenzstärke des Heers 1906 hatte ver= Ausgaben für die griechische Propaganda in Epirus 
ringern müssen. Die Erregung darüber, daß die und Mazedonien, Ersparungen bei den Behörden 
Regierung die Balkankrisis nicht hatte zur längst 1 usw. gedeckt werden. Das revolutionäre Beispiel 
erstrebten Angliederung von Kreta benützen können, des Heers machte auch in der Flotte Schule; der 
griff namentlich im Heer um sich und erzeugte eine Marineleutnant Typaldos besetzte am 29. Okt. 
tiese Erbitterung speziell gegen den Kronprinzen, mit einem Torpedoboot und 300 Mann das 
der das Generalkommando über die Armee hatte, Arsenal aus der Insel Salamis und richtete seine 
 
	        
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