Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Forderungen an die Regierung, die hauptsächlich 
auf Beseitigung der alten Marineoffiziere hinaus- 
liefen; doch wurde die Bewegung von der Militär- 
liga unterdrückt. 
Da es wegen der Einmischung des Offiziers- 
bundes in das politische Leben nicht gelang, eine 
Anleihe in Paris. London und Berlin aufzu- 
nehmen und die Wirren nur vergrößert wurden, 
gab das Ministerium Mawromichalis, das ohne- 
hin mit der Militärliga in Zwistigkeiten geraten 
war, im Jan. 1910 seine Demission, und es wurde 
auf Betreiben des inzwischen zum Brigadegeneral 
beförderten Zorbas und des von der Militärliga 
nach Athen berufenen kretischen Politikers Veni- 
selos ein außerparlamentarisches Kabinett Dra- 
gumis gebildet, in das Zorbas als Kriegsminister 
eintrat. Als einziges zuverlässiges Heilmittel, das 
Land aus den verworrenen Zuständen herauszu- 
führen, erschien immer mehr die namentlich von 
Veniselos eifrig propagierte Idee der Einberufung 
einer (eigentlich verfassungswidrigen) National- 
versammlung, die verschiedene Punkte der ver- 
alteten Verfassung radikal revidieren sollte. Nach 
langem Zaudern gab der König seine Zustimmung, 
und die Kammer beschloß am 3. März 1910 die 
Einberufung einer aus der doppelten Zahl der 
Kammerabgeordneten bestehenden Nationalver= 
sammlung zum 1. Sept., worauf der Offiziers- 
bund sich, wenn auch unvollständig, auflöste. Die 
Wahlen zur revidierenden Nationalversammlung 
fanden am 21. Aug. statt; es wurden gewählt: 
94 Anhänger Theotokis', 64 Rallis, 34 Mawro- 
michalis', 13 Zaimisten, 146 Unabhängige, d. h. 
Kandidaten, die außerhalb der früheren Per- 
sonenparteien aufgestellt waren, und 4 Kreter. Die 
Ankündigung, daß auch die Kreter Abgeordnete 
zur Nationalversammlung wählen würden, wurde 
von der Türkei mit dem Boykott der griechischen 
Waren und Schiffe beantwortet. Die Eröffnung 
der Versammlung fand am 11. Sept. durch den 
König persönlich statt. Schon am 16. Sept. kam 
es in der Versammlung zu ernsten Zerwürfnissen 
und Prügeleien, weil ein großer Teil der Ab- 
geordneten die Umwandlung des Parlaments in 
eine konstituierende Versammlung verlangte. Da 
die Regierung, die entschieden dahin Stellung 
nahm, daß die Versammlung laut den Verein- 
barungen zwischen dem früheren Parlament, dem 
König und den Parteiführern verpflichtet sei, 
ihren rein revidierenden Charakter beizubehalten, 
keine sichere Mehrheit besaß, trat Dragumis am 
12. Okt. zurück, und die Regierung übernahm 
Veniselos, der „Erfinder“ der Nationalversamm- 
lung, der sie am 25. Okt. auflöste. Die Neu- 
wahlen vom 12. Dez. ergaben einen glänzenden 
Sieg Veniselos', da 277 Anhänger der Regie- 
rung, 85 Unabhängige, 20 Zaimisten und 16 So- 
zialisten gewählt wurden. 
Die neue revidierende Kammer trat am 21. Jan. 
1911 zusammen und begann im Februar ihre 
Beratungen über die zu revidierenden Punkte der 
Griechenland. 
  
1430 
Verfassung; unberührt von der Revision blieben 
fast nur die Artikel der Verfassung, die sich auf 
das Königtum, die Thronfolge und die orthodoxe 
Kirche als Staatsreligion bezogen. Am 6. Juni 
wurde die neue Verfassung von der National= 
versammlung angenommen. Die wichtigsten Ande- 
rungen und neue Bestimmungen sind folgende: 
die jetzige neugriechische Schriftsprache wird als 
Staatssprache bestimmt, jede sprachliche Umwand- 
lung des Textes der heiligen Schriften und jede 
Übersetzung in einen andern griechischen Dialekt 
verboten; Untersuchungsgefangene müssen inner- 
halb 24 Stunden vor den ordentlichen Richter 
geführt werden; die Beschlagnahme von Zei- 
tungen ist nicht nur wegen Beleidigung der Reli- 
gion oder des Königs, sondern auch wegen 
unsittlicher Veröffentlichungen gestattet; der all- 
gemeine Schulzwang wird erneut eingeführt; 
Neuwahlen infolge einer Kammerauflösung müssen 
innerhalb 45 Tagen stattfinden; besoldete Staats- 
beamte, aktive Offiziere, Bürgermeister, Notare 
usw., die sich als Kandidaten aufstellen lassen, 
müssen ihre Amter niederlegen; die Wahlprüfungen 
werden einem Gerichtshof übertragen, der aus 
ausgelosten Richtern des Areopags und des Appell- 
hofs besteht; die Abgeordneten erhalten am An- 
fang jedes Vierteljahrs 1000, diejenigen, die in 
Athen oder im Piräus ihren Wohnsitz haben, 
800 Drachmen Diäten; Mitglieder des Areopags, 
des Appellhofs und die Richter erster Instanz sind 
lebenslänglich, Staatsanwälte, Friedensrichter, 
Bagatellrichter, Notare usw. unabsetzbar und können 
nur durch richterliches Urteil in gewissen Fällen 
entfernt werden. Der 1865 aufgehobene Staats- 
rat wurde wiederhergestellt; er besteht aus 7/16 
ordentlichen und bis 10 außerordentlichen Mit- 
gliedern, die durch königliches Dekret auf Vor- 
schlag des Ministeriums ernannt werden; zu ihren 
Obliegenheiten gehören die Überarbeitung der 
Gesetzesvorschläge, die Durchsicht der Verwal- 
tungsdekrete, die Entscheidung über Streitfälle in 
Verwaltungsangelegenheiten, über rechtswidrige 
Handlungen aller Verwaltungsbehörden, die durch 
Anfechtungsklage bekannt geworden sind, und die 
Entscheidung als höchste Disziplinarinstanz in An- 
gelegenheiten der lebenslänglich angestellten Be- 
amten. — Die auswärtige Politik Griechen- 
lands ist noch immer durch den Gegensatz zu der 
Türkei beherrscht, wenngleich Veniselos, im Gegen- 
satz zu seiner früheren Haltung, in der kretischen 
Frage sich trotz des italienisch-türkischen Kriegs 
große Zurückhaltung auferlegt und sogar kretischen 
Abgeordneten, die an der Tagung des griechischen 
Parlaments teilnehmen wollen, den Eintritt ins 
Land verweigert; die diplomatischen Beziehungen 
zu Rumänien, die seit 1905 unterbrochen waren, 
wurden im April 1911 wieder angeknüpft. 
Neue Literatur. G. Fougeres, Grece (Par. 
1909); N. N. Saripolos, Das Staatsrecht des 
Kar. G. (1909; mit Angabe der staatsrechtl. Lit.); 
I. F. Dürr, Die Kultur u. das Bildungswesen der
	        
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