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allerdings zu jenen Grundrechten der Kirche ge-
zählt worden, gegen die sich ein Gewohnheitsrecht
nicht bilden könne. Dem haben sich die ältere
Doktrin, aber auch noch einige neuere Autoren
angeschlossen. Jene Dekretalen setzen indessen ein
wesentlich anderes prinzipielles Verhältnis von
Staat und Kirche voraus, das sich heute insbe-
sondere nach Leos XIII. Kundgebungen nicht mehr
aufrecht erhalten läßt. Tatsächlich haben sich denn
auch die kirchliche Gesetzgebung und die praktische
Rechtsentwicklung insbesondere seit dem Abschluß
jener Konkordate auf den Boden der wirklichen
Verhältnisse gestellt (ogl. Göller in der „Köln.
Volkszeitung“ a. a. O.). Da nun aber die Päpste
selbst in den Konkordaten das privilegium fori
für einzelne Länder beschränkt haben, kann, so-
weit sich in andern Ländern in gleichem Umfang
ein Gewohnheitsrecht bildet, diesem die Ratio-
nabilität nicht mehr abgesprochen werden.
b) die Voraussetzung der legitima prae-
scriptio. Die von der älteren Doktrin für die
Bildung eines Gewohnheitsrechts für erforderlich
angenommene Frist beträgt 40 Jahre, ein Zeit-
raum, der ja für die Verjährung kirchlicher Rechte
überhaupt ausreicht. Die neuere Doktrin hält
teilweise 10 bzw. 20 Jahre für ausreichend. In
Deutschland kann man aber sogar von einer
100 Jahre und mehr bestehenden Gewohnheit
reden. (Vgl. z. B. für Preußen bereits das Patent
vom 15. Jan. 1742 für Schlesien, vom 28. Sept.
1772 für Westpreußen, Corpus lur. Fred. I, 1,
2, § 12, Allgem. Landrecht II 11, 88§ 97 98
536/538; für Bayern Religionsedikt von 1818,
§55 69 70; für Sachsen Gesetz vom 28. Jan.1835,
§19; für Baden I. Konstitutionsedikt vom 14. Mai
1807, §§ 14 15, Gesetz vom 9. Okt. 1860, 8 13
usw. Zuletzt einheitlich für ganz Deutschland
Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877,
8 13 15.)
c) endlich die Forderung des Konsenses des
kirchlichen Gesetzgebers, hier des Papstes.
Dieser Konsens ist aber ein für allemal von
Gregor IX. und Bonifaz VIII. gegeben für jede
Gewohnheit, selbst gegen einen positiven Rechts-
satz, sofern sie nur sonst die Bedingungen der
Rationabilität und Verjährung erfüllt (c. 11 X.
1, 4jc. 1 in VI“ 1, 2; vgl. Brie, Die Lehre
vom Gewohnheitsrecht).
Dieses in Deutschland bestehende Gewohnheits-
recht wurde weder durch die Bulle Apostolicae
Sedis noch durch die Instruktion von 1886 in
Frage gestellt, weil es nicht practor, sondern
secundum canonicas sanctiones ist. Tat-
sächlich haben denn auch ganz im Einklang hier-
mit mehrere bischöfliche Erlasse zwar die Geist-
lichen verpflichtet, vor Erhebung einer Klage oder
Erstattung einer Anzeige insbesondere gegen
Amtsbrüder, oder falls eine solche gegen sie selbst
gerichtet wird, den Tatbestand der bischöflichen
Behörde mitzuteilen bzw. die Erlaubnis einzu-
holen, aber kein einziger statuiert im Anschluß an
Klerus.
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die Instruktion von 1886 etwa auch für Laien
die Pflicht, die bischöfliche Erlaubnis einzuholen.
So Mainz 1863, Rottenburg 1894, Freiburg
1899., Limburg und Fulda 1903, Trier und
Passau 1905; vgl. auch die Münstersche Diözesan-
svnode von 1898, Art. 98 (ogl. des näheren
Ebers in der „Germania“ 1911, Nr 275, 2.Blat)).
III. Aber auch das neue Motuproprio
hat an dem bestehenden partikulären Recht nichts
geändert.
1. Daß die konkordatsmäßigen Ein-
schränkungen nicht aufgehoben werden, ergibt sich
chon aus der Erwägung, daß die Kirche eine ein-
eitige Aufhebung solcher Bestimmungen für un-
zulässig erachtet. Waren sie schon durch die In-
struktion von 1886 ausdrücklich aufrechterhalten,
so sind sie auch jetzt durch den Ausdruck nullo
potestatis ecclesiasticae permissu gedeckt.
2. Ebenso werden auch die gewohnheits-
rechtlichen Derogationen in Deutschland nicht
berührt. Denn
a) kann nach der Lehre aller Kanonisten ein
allgemeines Gesetz kein partikuläres Gewohnheits-
recht beseitigen, falls dieses nicht ausdrücklich er-
wähnt wird. Das Motuproprio sagt aber zum
Schluß nur contrar##is quibusvis non obstan-
tibus, eine allgemeine Klausel, welche dieses Er-
fordernis nicht erfüllt. Sodann
b) besagt das Motuproprio: Privatleute, die
geistliche Personen vor das weltliche Gericht
nullo potestatis ecclesiasticae permissu
ziehen usw. Dieser Ausdruck ist absichtlich so weit
gefaßt. Es heißt nicht sine speciali oder ge-
nerali permissu papae vel episcopi, sondern
ganz allgemein nullo permissu. Darunter sind
gewiß in erster Linie die generellen Abrogationen
durch den Papst in den Konkordaten, wie die
spezielle Erlaubnis des Bischofs oder Papstes im
Einzelfall zu verstehen, aber es muß darunter
auch eine gewohnheitsrechtliche Derogation ver-
standen werden, weil ja nach kirchlichem Recht die
Bildung eines Gewohnheitsrechts von dem con-
sensus bes kirchlichen Gesetzgebers abhängt, und
somit auch bei der gewohnheitsrechtlichen Dero-
gation des privilegium fori ein permissus
potestatis ecclesiasticae vorliegt.
Dem entsprechend hat denn auch der Kardinal-
staatssekretär auf die Anfrage des preußischen
Gesandten Mitte Dez. 1911 die offizielle Ant-
wort erteilt, daß das Motuproprio Deutschland
nicht berühre, weil hier gemäß den kanonischen
Prinzipien ein Gewohnheitsrecht dem privilegium
fori derogiert habe. Die gleiche Erklärung ward
Anfang Jan. 1912 auch dem sächsischen Gesandten
gegeben. Diese amtliche, also authentische Er-
klärung hat nicht etwa eine Dispensation Deutsch-
lands vom Motuproprio zum Inhalt; denn eine
solche hätte im Widerspruch mit der ganzen Rechts-
lage gestanden, weil ja das Motuproprio an dem
bisherigen Rechtszustand in Deutschland nichts
geändert hat und es seinem Wortlaut nach auch