Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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reform gedacht war und schließlich zunächst allein 
zum Gesetz erhoben wurde, ist die bleibende muster- 
gültige Grundlage des Selbstverwaltungsrechts 
für die Städte geworden. Das Prinzip der staat- 
lichen Bevormundung wurde abgelöst durch das 
Prinzip der größtmöglichen Freiheit, „der Selbst- 
verwaltung“, welche sich zwar nicht außerhalb, 
sondern innerhalb des Rahmens des staatlichen 
Willens vollzieht, anderseits aber der Gemeinde 
als einer „bürgerlichen Gemeinschaft auf Grund 
gemeinsamer sittlicher und wirtschaftlicher Auf- 
gaben“ gestattet, weit hinauszugehen über die ihr 
vom Staat zwangsweise übertragenen Pflichten 
und neben diesen sich einen Aufgabenkreis aus 
eignem Antrieb zu schaffen, um so in freier, wenn 
auch — im Gegensatz zur mittelalterlichen Auto- 
nomie der Städte — durch das staatliche Auf- 
sichtsrecht beschränkter Entschließung und Betäti- 
gung zum heute wieder wie früher hervorragend- 
sten Organ der allgemeinen Kulturpflege zu 
werden. 
Die preußische Städteordnung ist die Grund- 
lage geworden, auf der alle deutschen Städteord- 
nungen des 19. Jahrh. sußen; der darin verwirk- 
lichte Gedanke bildet noch heute in fast unverän- 
derter Form ein unentbehrliches Glied jedes mo- 
dernen Staatsverwaltungskörpers. Gegenwärtig 
gelten in Preußen für die einzelnen Lan- 
desteile verschiedene Städterechte, und zwar 
für die sieben östlichen Provinzen (außer Neu- 
vorpommern und Rügen) die Städteordnung vom 
30. Mai 1853, mit der im wesentlichen diejenige 
für Westfalen vom 19. März 1856 übereinstimmt. 
Die Rheinprovinz erhielt eine besondere Städte- 
ordnung unterm 15. Mai 1856, die von der 
Städteordnung der östlichen Provinzen und West- 
salens sich hauptsächlich dadurch unterscheidet, daß 
in ihr nach dem französischen System der Bürger- 
meister, nicht das Kollegium des Magistrats, Vor- 
stand der Stadtgemeinde ist. Zugleich ist der 
Bürgermeister aber auch Vorsitzender der Stadt- 
verordnetenversammlung und dadurch in der Lage, 
einen größeren persönlichen Einfluß auf die Stadt- 
vertretung auszuüben, als dies in den Rechts- 
gebieten möglich ist, wo das Magistratskollegium 
der Stadtvertretung gegenübersteht. 
Die Städteordnungen der 1850er Jahre haben 
zwar manche Mängel der Städteordnung von 
1808 verbessert, aber sie haben auch an Stelle des 
allgemeinen gleichen Wahlrechts aller Bürger das 
Dreiklassensystem eingeführt, die Rechte der Stadt- 
verordneten wesentlich beschränkt und vor allem der 
Staatsregierung ein weit ausgedehnteres Auf- 
sichtsrecht verliehen und dadurch die Selbständig- 
keit der Städte und die freie Entfaltung ihrer 
Kräfte vielfach von dem Wohlwollen der Minister 
abhängig gemacht. Auf die neuen, im Jahr 1366 
mit Preußen vereinigten Provinzen wurde die 
Städteordnung von 1853 nicht ausgedehnt. In 
Hannover blieb diejenige von 1858 in Kraft; 
Frankfurt a. M. erhielt 1867 und Schleswig 
Städtewesen, modernes. 
  
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Holstein 1869 eine besondere Städteordnung, die 
gegenüber jener von 1853 verschiedene Eigen- 
tümlichkeiten aufweist. Für die Provinz Hessen- 
Nassau wurde (mit Ausschluß der Stadt Frank- 
furt) 1897 eine Städteordnung erlassen, die sich 
wieder mehr an die Ordnung von 1858 anlehnt. 
Eine erhebliche Förderung erfuhr das preußische 
Städterecht sodann durch die Zuständigkeitsgesetze 
von 1876 und 1883, welche in sehr wirksamer 
Weise die Selbständigkeit der Städte gegenüber 
den Staatsbehörden befestigten und die Ausübung 
des staatlichen Aufsichtsrechts über die Städte nach 
den wichtigsten Richtungen hin der Rechtskontrolle 
der Verwaltungsgerichte unterstellte. 
Wenn das preußische Städterecht auch in man- 
cher Beziehung reformbedürftig ist, so hat es den 
Städten trotz der Mängel, mit denen es behaftet 
ist, trotz des Dreiklassensystems, das in dem größten 
Teil des Staats besteht, trotz der weitgehenden Be- 
schränkungen des Bürgerrechts, die in andern Pro- 
vinzen gelten, und trotz verschiedener Bestim- 
mungen, die einer kleinlichen bureaukratischen Be- 
vormundung der Städte durch die Staatsbehörden 
Raum gewähren, auf allen Gebieten der wirt- 
schaftlichen und geistigen Kultur einen Ausschwung 
ermöglicht, wie er in keinem andern Staat der 
Welt innerhalb so kurzer Zeit zu verzeichnen ist. 
Nicht die Regierung ist es, sondern die freie, selbst- 
bewußte Tätigkeit des deutschen Bürgertums, 
welche die Städte unter dem Schutz eines mäch- 
tigen deutschen Reichs zu der Blüte gebracht hat, 
die heute unsere Bewunderung erregt. Die Ver- 
waltungen und Leistungen der preußischen Städte 
brauchen den Vergleich nicht zu scheuen weder mit 
den Städten der andern deutschen Staaten noch 
mit denen des Auslands. 
In Bayern wurde die Städteverfassung zu- 
erst durch das organische Edikt von 1808, dann 
durch die Verordnung vom 17. Mai 1818 (ab- 
geändert durch das Gemeindeedikt von 1834) ge- 
regelt; heute gelten die Gemeindeordnungen (für das 
rechtsrheinische Bayern und die Pfalz) von 1869 
in der Abänderung von 1872, 1896 und 1907.— 
In Sachsen besteht die revidierte Städteordnung 
(für größere Städte) und die Städteordnung für 
mittlere und kleinere Städte vom 24. April 1873. 
— In Württemberg erfuhr das Gemeinde- 
recht durch das Verwaltungsedikt von 1822 die 
erste gesetzliche Reglung. Die Novelle von 1891 
brachte Sonderbestimmungen für die Städte mit 
mehr als 10 000 Einwohnern und die Verfassunge- 
reform von 1906 den mittleren und größeren 
Städten für die Wahl der Bürgerausschußmit- 
glieder sowie der unbesoldeten Gemeinderäte die 
Proportionalwahl mit freien Listen. — In Baden 
kam es zu einer gesonderten Behandlung der 
Städte erst mit der Städteordnung des Jahrs 
1874 und mit den in den darauf folgenden Jahr- 
zehnten ergangenen Novellen zu diesem Gesetz. 
Durch die neueste Gesetzesänderung von 1910 er- 
hielten die Gemeinden über 4000 Einwohner ein
	        
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