fullscreen: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Gegensatz zu den alten „Ständen“ steht die mo- 
derne repräsentative Volksvertretung, die 
auf dem Prinzip des Staatsbürgertums, der 
Gleichheit aller vor dem Gesetz, beruht. Dieses 
moderne konstitutionelle Repraͤsentativsystem ist 
aber grundverschieden von dem ständischen System, 
und zwar dies sogar unter der Voraussetzung, daß 
der Konstitutionalismus noch nicht zum Parla- 
mentarismus sich ausgestaltet hat, sondern noch 
daran festhält, daß die oberste Gewalt im Staat 
nach allen ihren Verzweigungen im Monarchen 
sich konzentriert. Es sind namentlich zwei Mo- 
mente, durch welche diese wesentliche Verschieden- 
heit bedingt ist. 
Fürs erste sieht die konstitutionelle Verfassung 
von dem sozialen Ständewesen ganz ab; die Glie- 
derung der Gesellschaft in verschiedene Stände 
bleibt hier ganz außer Ansatz; sie bildet keinen 
Faktor in der Konstruktion des konstitutionellen 
Systems. An die Stelle der Stände tritt hier der 
Kollektivbegriff: Volk. Das „Volk“, so heißt es 
hier, ist berechtigt, an der Gesetzgebung teilzu- 
nehmen und die Steuern und Lasten zu bewilligen. 
Nicht eine ständische Vertretung steht dem Mon- 
archen zur Seite, sondern eine „Volksvertretung“. 
In der konstitutionellen Verfassung werden also die 
Stände nivelliert, sie werden gleichsam in ihre 
Atome aufgelöst, und die ungegliederte Gesamtheit 
dieser Atome, die unter dem Kollektivbegriff „Volk“ 
zusammengefaßt wird, wird als das Subjekt ge- 
dacht, welches mit dem Monarchen an der Gesetz- 
gebung teilnimmt. 
Infolgedessen wird dann fürs zweite, wenn es 
sich um die Wahl der Glieder der Volksvertretung 
handelt, nicht mehr nach Ständen, sondern nach 
Köpfen gewählt: es werden Wahlkreise gebildet, 
und alle wahlfähigen Bewohner dieser Wahlkreise, 
mögen sie was immer für einer Berufsklasse an- 
gehören, wählen durch Stimmenmehrheit einen 
Abgeordneten, der gleichfalls was immer für einer 
Berufeklasse angehören kann und nicht einmal in 
dem gedachten Wahlkreis zu wohnen braucht, und 
deputieren denselben in die Volksvertretung. Da- 
bei kann das Wahlsystem wiederum ein doppeltes 
sein, ein indirektes und ein direktes. Nach ersterem 
wahlen die dazu Berechligten zuerst Wahlmänner, 
und diese wählen dann erst den Abgeordneten. 
Nach letzterem dagegen fallen diese Mittelspersonen 
weg und werden die Abgeordneten unmittelbar von 
den Wahlberechtigten gewählt. Die ständische und 
die konstitutionelle Versassung kommen also zwar 
darin mileinander überein, daß sie beide beschränkt- 
monarchische Verfassungen sind, aber sie sind ihrer- 
seits doch wieder wesentlich verschieden voneinander. 
Wenn nun auch die Einführung der konstitu- 
tionellen Verfassung, namentlich in den süd- und 
einzelnen mitteldeutschen Staaten, sich fast un- 
mittelbar anschloß an die Aufhebung des letzten 
Restes der alten Stände, und wenn man auch fast 
überall der modernen Vollsvertretung den Namen 
„Ständeversammlung“ oder einfach „Stände“ 
Stände. 
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gab, so sind doch die heutigen „Landstände“ eine 
vollständige Neuschöpfung, deren Grundlage je- 
weils die vom Monarchen gegebene Verfassung 
bildet. 
Soviel Egoismus und Engherzigkeit die alten 
Stände auch gezeigt haben mögen, so ist doch un- 
leugbar, daß auch in der Gegenwart aus den 
Parlamenten, die den Stimmungen der breitesten 
Volksschichten Rechnung tragen, die Interessen- 
politik keineswegs verschwunden ist. Und mit Recht 
sehen wir noch heute oder richtiger auch heute 
wieder die Berufsstände auf dem Gebiet der Ver- 
waltung erhöhte Bedeutung gewinnen. Sie haben 
sich eigne Organe geschaffen, die jeweils die Inter- 
essen ihres Standes wahrzunehmen haben, so die 
Handels-, Landwirtschafts-, Gewerbe-, Hand- 
werker-, Arzte-, Anwaltskammern. Gerade die 
neueste Verfassungsgesetzgebung hat dieser erhöhten 
Bedeutung der ständischen Vertretungen Rechnung 
getragen, indem nunmehr in einigen deutschen 
Staaten neben den Vertretern des standes- und 
grundherrlichen Adels, der Geistlichkeit beider Kon- 
fessionen und den Vertrauenspersonen des Landes- 
herrn auch Vertreter der Handels-, der Landwirt- 
chafts= und der Handwerkskammern verfassungs- 
gemäß Mitglieder der Ersten Kammer des Landtags 
sind. Wie stark die natürliche Kraft der ständischen 
Idee ist, das erkennen wir auch daraus, daß z. B. 
in Osterreich trotz der mit der Einführung des 
allgemeinen und gleichen Wahlrechts für die Reichs- 
ratswahlen vollzogenen vollständigen Nivellierung 
der Berufsstände und trotz der politischen Gleich- 
stellung aller gesellschaftlichen Schichten diese stän- 
dische Idee doch wieder, wenn auch nur indirekt, 
zur Geltung kommt, indem die Vertreter einzelner 
Berufsstände im Abgeordnetenhaus Vereinigungen 
bilden, um ihre beruflichen Interessen besser zur 
Geltung bringen zu können. So finden wir im 
Verzeichnis der parlamentarischen Klubs folgende 
Liste: „Advokatenvereinigung“, „Freie agrarische 
Vereinigung“, „Freie gewerbliche Vereinigung“, 
„Freie industrielle Vereinigung“, „Freie Vereini- 
gung der Arzte“, „Freie Vereinigung der Land- 
städte und Märkte“, „Beamtenvereinigung“ usw. 
und jüngst kam hinzu die „Vereinigung der katho- 
lischen Geistlichen“. 
Wir sehen auch hieraus, daß die berufsständische 
Idee eben einfach nicht umzubringen ist, weil sie 
einem natürlichen Bedürfnis der Gesellschaft ent- 
spricht. — Wenn nun auch verfassungsgemäß die 
Mitglieder beider Kammern der Volksvertretungen 
überall Vertreter des ganzen Volks sein sollen, so“ 
ist vielsach doch noch das Prinzip der ständischen 
Gliederung der Gesellschaft in der Zusammen- 
setzung der Ersten Kammerrn der deutschen 
Staaten wirksam. So besteht z. B. das preußische 
Herrenhaus 1) aus den Prinzen des königlichen 
Hauses, 2) aus Mitgliedern mit erblicher Berech- 
tigung und 3) aus Mitgliedern, welche auf Lebens- 
zeit berufen werden, darunter sind nun solche, welche 
von bestimmten Verbänden dem König präsentiert 
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