stinkts. Ich glaube nicht, daß England jemals ein Bündnis mit Rußland
und Frankreich eingegangen wäre, hätte es sich nicht durch unsere Flotten-
politik bedroht gefühlt. Wohl stand hinter unserem Schiffbau der aus—
gesprochene und erprobte Friedenswille des Kaisers, der in dieser Flotte
eigentlich nicht mehr als eine herrliche Demonstration deutscher Macht
sah und seine Freude an diesem wundervollen Instrument hatte, gänz-
lich unabhängig davon, wie es angewendet werden sollte. Aber daß
England diese gewaltig anwachsende Seemacht als eine Gefahr empfand,
war unvermeidlich; und nur dieses Gefühl, bedroht zu sein, hat den deutsch-
feindlichen Strömungen Geltung verschafft, im englischen Auswärtigen
Amt ebenso wie in der öffentlichen Meinung. Ob die Furcht Englands vor
der deutschen Flotte begründet war, das ist nicht entscheidend für die Be-
urteilung der Frage, ob unsere Flottenpolitik weise war oder nicht.: Diese
Furcht ist jedenfalls eine historische Tatsache. Das Zahlenverhältnis der
Großkampfschiffe 16:10 war für England allein nicht ausschlaggebend.
Wir dürfen nicht vergessen, daß die Engländer unserer technischen Lei-
stungsfähigkeit nicht immer mit dem Gefühl der Ebenbürtigkeit gegen-
überstanden. Wenn wir es aber unternahmen, ungewarnt durch die Er-
fahrungen unseres Kontinents, die größte Seemacht zu beunruhigen,
dann war es wahrlich vermessen, Rußland den Weg nach Konstantinopel
zu verlegen und es an seinem nervösen Dunkt durch die Mission Liman
v. Sanders“ noch besonders zu reizen.
Ein weiterer Vorwurf kann Deutschland nicht erspart werden. Trot der
unklaren Wendungen Greys während der letzten vierzehn Tage durfte sich
bei den deutschen Staatsmännern die Illusion nicht tagelang halten, der
Krieg ließe sich auf Osterreich-Serbien lokalisieren.: Mindestens von dem
1 Aus dem ersten Band der Dublikation des Reichsarchivs (Der Weltkrieg 1914
bis 1918, Berlin 1925) geht hervor, daß der Ausbau unserer Landmacht stark zu-
gunsten unserer Flotte vernachlässigt worden ist. Das ist für uns eine bittere Erkenntnis.
2 Daran ändert nichts die Tatsache, daß selbst in Ententekreisen dieser Wunsch
Osterreichs als begründet anerkannt wourde. Sir M. de Bunsen, englischer Bot-
schafter in Wien, schreibt am 29. Juli 1914 an Sir Edward Grey vertraulich:
„Französischer Botschafter berichtet seiner Regierung, daß ihn Eingestänndisse des
serbischen Gesandten, mit dem er bis zu dessen Abreise in enger Fühlung war, über-
zeugt haben, Zustand wachsender Gärung in südslawischen Provinzen der Doppel.
monarchie sei derart, daß österreichisch-ungarische Regierung genötigt gewesen wäre,
sich entweder in Lostrennung dieser Provinzen zu fügen oder eine verzweifelte An-
strengung zu machen, um sich die Provinzen dadurch zu erhalten, daß sie Serbien
als Machtfaktor ausschalte. Serbischer Gesandter äußerte immer, die Zeit arbeite
für Serbien, und er sagte französischem Botschafter, südslawische Hrovinzen wären
innerhalb drei Jahren bereit, sich gegen Österreich-Ungarn zu erheben, ohne daß
Serbien auch nur den kleinen Finger zu rühren brauche. Osterreich---Ungarn merkte,
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