Deutschland so schwer wird, den aus ihrer Mitte hervorgehenden Führern
loyale Gefolgschaft zu leisten, und hinter denen häufig Interessentengruppen
stehen, die eine sachliche Urteilsbildung verhindern.
Für mich sind Aristokratie und Demokratie keine Gegensätze. Ich sehe
in dem Mehrheitsprinzip den heilsamen Zwang für den Aristokraten, der
sich durch Herkunft oder Bildung oder eigenes Verdienst zur Führerschaft
befähigt glaubt, den Weg zu den Volksgenossen zu finden, von deren pro-
faner Menge sich abzusondern immer die große Versuchung für die „Er-
lesenen“ gewesen ist. Die Aristokratie ist das Salz, auf das die Demokratie
nicht verzichten kann. Den Adel von Geist und Geburt aber gilt es auch
in seinem eigenen Interesse von dem entnervenden Gefühl der rivilegiert-
heit zu befreien.
Ich bin hier vom Plan meines Buches abgewichen. Ich habe diese
Abschweifung in Verfassungsfragen gemacht, weil mir deutlich eine
nahende Gefahr vor Augen steht: der Widerwille gegen jenen Darlamen-
tarismus, wie er sich bei uns in Nachahmung mißverstandener westlicher
Einrichtungen herausbildet, kann dazu führen, daß politische Anbesonnen=
heit nach faschistischen Experimenten greift. Die Sehnsucht nach Führer-
schaft sitzt nach den Großtaten des Krieges tief im Leben der Bölker. Wenn
die deutsche Demokratie nicht die Herrschaft der vielen und die Zertei-
lung der Verantwortung überwindet, so ist sie verloren.
Im Juli 1917 hatte der Kaiser, kraft Verfassung und Brauch, die
Macht, den Mann an die Spitze der Regierung zu bringen, den er für
geeignet hielt. Wäre seine Wahl auf eine Persönlichkeit gefallen, die aus
Aberzeugung die Reform des Wahlrechts und die Ablehnung von An-
nexionen vertrat, so hätte die Reichstagsmajorität sich von diesem Kanzler
führen lassen, ohne ihn durch mißtrauische Kontrollmaßnahmen zu be-
lästigen.
Eine solche Lösung wäre keine vorübergehende Kriegsmaß-
nahme gewesen, auch nicht ein Abergang zur DParlaments-
herrschaft, sondern eine organische Entwicklung des Bismarck-
schen Verfassungswerks.
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1 Gustav Steffens: Das Problem der Demokratie, 1912, S. 101: „Ein in der
Tiefe wurzelnder Aristokratismus ist das Salz des lebenskräftigen Demokratismus.“
(Zitiert nach R. Thoma, „Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Ber-
hältnis zum Staatsbegriff“, Erinnerungsgabe für Max Weber: Die Hauptprobleme
der Soziologie, München 1923, Bd. I, S. 41. Diese Schrift ist eine erleuchtende
Analyse der demokratischen Grundidee.)
Prinz Max von Baden 9 120