Zweites Kapitel
Politische Fühlungen
Bis zum Jahre 1915 gab es in gebildeten Kreisen eigentlich nur die
Haltung des abwartenden Vertrauens, eines Vertrauens, das schier un-
erschöpflich war. Rückblickend ist es erstaunlich, zu sehen, wie Männer von
erprobter Lrteilsschärfe und Anabhängigkeit des Charakters jede Regung
selbständiger Meinung in Angelegenheiten des Krieges bei sich und ihrer
Amgebung unterdrückten.
„Wenn wir einen Frieden wollen, wie wir ihn brauchen, dann müssen wir jetzt
vor allem vertrauen auf die deutschen Waffen, auf das kämpfende deutsche
Volk. Vertrauen wir aber auch auf den Friedenswunsch und den
Friedenswillen des Deutschen Kaisers. Zweimal hat der Kaiser in
den letzten Jahren durch sein versönliches entscheidendes Eingreifen uns den Frieden
gesichert. Ganz unbeschadet der Gegensätze zu der Politik des Kaisers müssen wir
heute erklären: im jetzigen Augenblick können wir dem Kaiser ver-
trauen.“ 1T
Diese Worte sprach nicht etwa eine der Stützen des Thrones, sondern
der Sozialdemokrat Wolfgang Heine am 22. Februar 1915 in einer großen
Volksversammlung, und der Stuttgarter „Beobachter“ lobte ihn dafür,
daß er im Vertrauen auf Kaiser und Kanzler für die Gegenwart jede selb-
ständige Parteiaktion ablehne.
Im Jahre 1916 war eine kritische Anterströmung zu spüren. Sie drang
auf vielen und mannigfachen Wegen zu mir. Herr v. Tirpitz schrieb mir
besorgt über anglophile Erwägungen, die unsere schärfste Waffe, den U-
Boottkrieg, stumpf machten und denen zuliebe die Chancoe eines russischen
Separatfriedens vernachlässigt werde. Vor allem aber ging durch mili-
tärische Kreise ein banges Raunen und Fragen: war die Entscheidung,
Verdun anzugreifen, richtig? Ist es recht, den mißlungenen Angriff fort-
zusetzen? Ich hielt es für meine Pflicht, den leitenden Männern im Aus-
wärtigen Amt von solchen Strömungen Kenntnis zu geben. Die Herren
waren so freundlich, mir eine ausführliche Antwort zu erteilen.
1 „Berliner Tageblatt“ vom 23. Februar 1915.
: Der Angriff begann am 21. Februar 1916.
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