Full text: Prinz Max von Baden. Erinnerungen und Dokumente.

Achtes Kapitel 
Verzögerte Entschlüsse 
(Zweite Hälfte September 1918) 
Die Spannung des September war kaum zu ertragen. Wir standen 
hilflos vor dem sich vollendenden Unglück der Nation, das zu wenden 
noch in Menschenkraft gelegen hätte. Man erwachte jeden Morgen mit 
der Sorge: Was ist passiert? Und atmete am Abend auf, daß Front und 
Bündnisse gehalten hatten. Man klammerte sich an jede Hoffnung, die 
noch Spielraum zu geben schien. Würde sich der Abermut der Feinde nicht 
überschlagen? Ich hörte: General Dershing forderte Rückkehr Deutsch- 
lands zu den Zuständen, wie sie vor 1870 waren. 
Von den Majoritätsparteien kam bessere Kunde: die ehrgeizigen Ele- 
mente dringen nicht durch, eine starke Gegenströmung macht ihnen zu 
schaffen, die mit Rücksicht auf die militärische Lage jede Krisis vermeiden 
will. Die Führung Erzberger-Scheidemann würde angenommen werden, 
aber ohne Begeisterung, als etwas, das besser ist als Führerlosigkeit. 
Selbst unter den Sozialdemokraten würde ein Aufatmen zu spüren sein, 
wenn die Krone das Prevenire spielte. 
Ich erhielt aus Berlin Mitteilung über ein Gespräch mit einem sozial- 
demokratischen Führer, das die widerstreitenden Stimmungen der Partei 
scharf beleuchtete und geeignet war, Sorge und Hoffnung zugleich hervor- 
zurufen. Der Abgeordnete besprach die Zukunft der Regierung Hertling 
und ging die folgenden Möglichkeiten durch: 
1. Die Regierung Hertling nimmt unser Drogramm an: Verzicht auf Personal- 
unionspläne im Osten und ebenso jede westliche Annexion, sofortige Wahlrechts- 
reform, Abschaffung des Artikels 9. 
Dann haben wir keine Handhabe, Hertling zu stürzen. Daß einer von uns dann 
in die Regierung eintritt, ist allerdings unwahrscheinlich. In eine schlechte Firma 
geht man nicht gern hinein; wir sind Hertlings müde. 
2. Hertling macht Schwierigkeiten und die Mehrheit stürzt ihn. Die Folge wäre 
die parlamentarische Regierung mit Erzberger und Scheidemann. In dem Fall 
wäre ja Fehrenbach der logische Reichskanzler. Er würde die Sache auch wahr- 
scheinlich besser machen als die meisten anderen. Heute würden wir noch Solf 
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