Eine neue Ostfront wäre wahrscheinlich nicht nötig, dank der Min-
derwertigkeit der Roten Armee, wohl aber würde die Preisgabe der
Ukraine einen Triumph des Bolschewismus und eine große Ermutigung
seiner Hropaganda bedeuten.
Rumänien ist für uns verloren: Fallen seine Olquellen aus, so
reichen unsere Vorräte nur noch einige Monate, obgleich die Marine
ihre großen Bestände dem Kriegsminister zur gemeinsamen Bewirt-
schaftung zur Verfügung stellen will.
Ein neues und günstiges Moment — schon am 9. angedeutet —
ist beute nachgewiesen: Das ist das Nachlassen der Kampfkraft des
Feindes. Während der letzten Wochen, ja noch vor zwei Tagen hätte
er einen Durchbruch erzwingen können, aber er tat es nicht, weil er nicht
sein Letztes gab.
Zusammenfassend ließ sich also sagen: die militärische Lage hatte
sich seit dem 5. Oktober nicht zum Besseren gewandt. Aber so schlecht,
wie sie der General Ludendorff am 29. September ansah, war sie auch
heute noch nicht. Wir durften am 5. Oktober die weiße Fahne nicht
hissen. Wir brauchten sie auch heute nicht zu bissen. Nach ein paar
Monaten würde allerdings die Situation verzweifelt sein.
Daraus ergab sich für mich die klare Schlußfolgerung: die Aktion
mit Wilson muß weiterlaufen. Wir haben uns an ihn gewandt; nun
gilt es, seinem guten Willen jede Chance zu geben, ob wir an ihn glauben
oder nicht; unsere Lage zwingt uns, die schwersten Opfer für den
Frieden zu bringen. Kommen aber entehrende Waffenstillstands-
bedingungen, dann muß zur letzten Verteidigung gerufen
werden.
Das würde dann der Verzweiflungskampf sein.
Eines aber war mir klar: Diesen Verzweiflungskampf durfte der General
Ludendorff nicht leiten.
Ich hatte in dieser Sitzung das Vertrauen zum Menschen Ludendorff
verloren. Er mußte der Situation rücksichtslos ins Auge sehen, auch ohne
jede Rücksicht auf das eigene Prestige. Nur eine heroische Ehrlichkeit
konnte helfen.
Aber der General Ludendorff hatte den Wunsch, andere Heerführer zu
hören, als persönliche Beleidigung genommen und mit seiner und des
Generalfeldmarschalls Demission gedroht. Ich weiß, in Generalstabskreisen
herrscht ein Vorurteil gegen Kriegsräte. „Im Kriegsrat", so sagte Fried-
rich der Große, „siegt immer die timideste Partei.“ Dieses Wort hatte
für unsere Situation seine Bedeutung verloren: am 29. September
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