Zehntes Kapitel
Die Alternative: Abdankung des Kaisers — oder Verzicht
auf nationale Verteidigung
Am Abend des 29. Oktober erhielt ich einen Brief des Staatssekretärs
Scheidemann,! darin er die Forderung erhob, „die in der Presse nicht ge-
stellt werden dürfe“, der Herr Reichskanzler möchte Seiner Majestät dem
Kaiser empfehlen, freiwillig zurückzutreten. Es folgte eine „Begründung“,
die deutlich von jenen Schweizer Informationen inspiriert war:
„Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die große Mehrheit der Bevölkerung
des Deutschen Reiches die überzeugung gewonnen hat, daß die Aussicht, zu erträg-
lichen Bedingungen des Waffenstillstands und des Friedens zu gelangen, durch das
Verbleiben des Kaisers in seinem hohen Amte verschlechtert wird. Würde ein un-
günstiger Friede geschlossen werden, während der Kaiser in seinem Amt verbleibt,
so würde später gegen ihn und die Regierung der Vorwurf erhoben werden, daß
sie lieber schwere Nachteile für das Volk auf sich genommen, als daß sie aus einer
nun einmal gegebenen Sachlage die zum Wohle des Ganzen notwendigen Konse-
duenzen gezogen hätten.
Es kann weiter nicht bezweifelt werden, daß die Friedensverhandlungen be-
trächtlich günstigere Aussichten bieten, wenn die im Deutschen Reich vollzogene
nderung des Systems durch einen Wechsel an der höchsten Stelle des Reichs
nach innen und außen deutlich sichtbar gemacht wird. Die ganze politische Situation
legt die Vermutung nahe, daß der hier vorgeschlagene Schritt nur hinausgezögert,
aber doch nicht vermieden werden kann. Deshalb ist es besser, wenn der Kaiser jetzt
schon aus der gesamten Situation die Konsequenzen, die nach Auffassung auch
zahlreicher deutscher Staatsmänner gezogen werden müssen, so schnell als möglich
zieht.“
So wurde meine Politik am gleichen Tage durch den Kaiser und meine
sozialdemokratischen Mitarbeiter durchkreuzt. Ich zielte auf die große
Geste; wie sollte aber in der Atmosphäre des Hauptquartiers der Kaiser
die Lage prüfen können mit der nötigen NRücksichtslosigkeit gegen sich
selbst, und wie konnte Seine Majestät, oder auch nur ich, in Freiheit
handeln, wenn Scheidemann auf die Abdankung drängte.
1 Vgl. Scheidemann, a. a. O., S. 201 ff. Der Brief dort ist irrtümlich vom
20. Oktober 1918 datiert.
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