Diesem ungnädigen Bescheid lag tiefe Verstimmung und Kränkung.
zugrunde.
Von nun an steigerten sich täglich die Anzeichen des kaiserlichen Un-
willens — aber schon die ersten Nachrichten ließen keinen Zweifel, daß
Seine Majestät vom Augenblick an, da er Berlin verlassen hatte, in mir
nur den Widersacher sah und meine Absichten verkannte. Das war ein
sehr schwerer Schlag: für mich persönlich und nicht minder für meine Auf-
gabe. Ich stand dem Kaiser seit vielen Jahren nahe. Als ich gewagt hatte,
das Kanzleramt anzunehmen, hatte ich auf mein Vertrauensverhältnis
zu Seiner Majestät gebaut, das auch 1912 standgehalten hatte, als ich in
schwierigen Verhandlungen genötigt war, Widerstände zu überwinden.
Seit meinem Amtsantritt hatte ich von ihm nur guten Willen und Freund-
lichkeit erfahren, darüber hinaus eine heroische Bereitschaft, sachlich zu
sein. Man hatte nicht unrecht, wenn man in seiner Amgebung fürchtete,
daß der Kaiser „auf Grund des Vortrages einer einzigen Persönlichkeit
ohne weiteres sich bereit finden würde, dem Antrag zu willfahren“. —
Ich fühlte ein Fundament meiner Kanzlerschaft zerbrechen. Erst jetzt wurde
ich mir bewußt, daß ich — ohne mir NRechenschaft davon zu geben — immer
eine letzte Beruhigung in Reserve gehalten hatte: wenn alle schonende-
Aufklärung versagen sollte, dann gebe ich selbst zum Kaiser, und er wird.
in mir nicht nur den Kanzler der demokratischen Regierung, sondern auch
den Freund und Verwandten sehen, der das Hohenzollernhaus vor dem
Sturze retten will. Jetzt hatte der Kaiser seinen Sinn gegen mich verhärtet,
sich mir entzogen und sich gegen mich verschanzt. Da suchte ich nach Bundes-
genossen, die ihm so nahe oder noch näher waren als ich. Ich telegraphierte
noch am 30. Oktober an den Großherzog von Hessen und bat ihn um seinen
persönlichen Beistand.
In der Offentlichkeit wurde die Reise des Kaisers weniger besprochen,
als ich gefürchtet hatte. Man ahnte nur, daß der Entschluß dabinter stand,
der Krone nicht zu entsagen, und daher verschärfte sich die Agitation für
die Abdankung.
Der „Vorwärts“ ließ jede Reserve fallen. „Was wird der Kaiser
tun?“ Anter dieser Aberschrift schreibt das Blatt am 31. Oktober:
„Sinnlos wäre es, in Zeitungsspalten von einer Angelegenheit zu schweigen,
von der Markt und Gassen voll sind. Vor ein paar Tagen war überall das Gerüche
verbreitet, der Kaiser und der Kronprinz hätten auf den Thron verzichtet. Als
dieses Gerücht sich nicht bestätigte, wurde allgemein angenommen, es eile nur den
1 Aus dem Briefe einer wohl orientierten Persönlichkeit, den ich in diesen Tagen
empfing.
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