Tatsachen voraus. Seitdem kann keine Redaktion, keine als irgendwie unterrichter
geltende Persönlichkeit sich mehr vor den Anfragen retten, in denen immer die
Worte wiederkehren: „Schon?“ und Wann?"“. . Nichts kann mehr das Raunen
und Rauschen im Volk zum Schweigen bringen: Was wird der Kaiser tun?' Wann
wird er es tun?“
Man kann von einer stillen Bewegung reden, die durch alle Kreise des deutschen
Golkes geht. Wer hier meint, noch mit den alten Gegensätzen Ordnung und Um-
sturz, Monarchie und Republik operieren zu können, urteilt falsch. Es gibt in dieser
Frage im Volk kaum bedeutende Meinungsverschiedenheiten, und wenn sie vor-
handen sind, so gruppieren sie sich keinesfalls nach dem Schema der verschiedenen
arteirichtungen.“
Das traf heute nicht mehr zu. Noch vor acht Tagen hatten prominente
Persönlichkeiten konservativer Richtung die Abdankung des Kaisers er-
strebt, um die Monarchie zu retten. Seit Noskes Rede und dem Vorstoß
der „Frankfurter Zeitung“ war es Ehrensache auf der Rechten geworden,
für den Träger der Krone zu demonstrieren. Die konservative Fraktion
des Herrenhauses hatte am 26. Oktober einen Antrag eingebracht, darin
es hbieß:
„Der König von Preußen wird sein Volk auch in dunkelsten Tagen treu erfinden.
Das Herrenhaus wird eingedenk seiner Vergangenheit allezeit zu seinem ange-
stammten Herrscher als Schutzwehr vor dem Thron stehen.“ 1
So schön und natürlich an und für sich die Gefühle waren, aus denen diese
Kundgebung entstand, so hatte Haußmann doch nicht ganz unrecht, wenn
er vor ihr warnte, als vor einem „Bärendienst“. In der Tat, die Presse
der Linken wurde nur stürmischer in ihrem Drängen nach der Abdankung.
So war eine Konstellation in der Offentlichkeit geschaffen, welche die Ab-
dankungsfrage aus der Sphäre staatsmännischer Erwägung in die einer
gefühlsmäßigen Einstellung rückte und die Rechte bis ins innerste Mark
verwunden mußte. Wenn ich aber abwog, wen durfte man in diesem
Augenblick verletzen, die Rechte oder die Linke, so mußte die erbarmungs-
los nüchterne Antwort lauten: die Millionen, die binter der konservativen
Partei stehen, kämpfen weiter, auch wenn man ihren Gefühlen noch so
weh tut; haben wir aber nicht mehr den guten Willen der Massen, dann
ist damit zu rechnen, daß sie den Krieg sabotieren werden.
Das eine stand jetzt für mich fest: die Entscheidung durfte nicht mehr
auf die Rückkehr des Kaisers warten. Das Drängen steigerte sich beinahe
stündlich und erschwerte den Entschluß Seiner Majestät. Von den Sozial-
demokraten hing es ab, wieviel Tage wir noch hatten. Wann würde der
offizielle, in der Offentlichkeit nicht mehr zu verheimlichende Schritt er-
1 Westarp, a. a. O., Januarheft 1922, S. 185.
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