Am 4. November abends war die Kurierkiste auf dem Schlesischen
Bahnhof planmäßig entzweigegangen. Solf berichtete am Morgen des 5.,
daß dabei aufrührerische Schriften denkbar kompromittierenden Inhalts
ans Tageslicht gekommen wären: Aufrufe zum Revolutionskampf und
Meuchelmord. Nunmehr hatten wir die gewünschte Handhabe gegen Joffe
und seinen Stab von geübten Revolutionstechnikern. Wir beschlossen, am
Abend dieses Tages dem diplomatischen Vertreter Rußlands mitzuteilen,
daß er am nächsten Morgen mit seinem gesamten Botschaftspersonal Berlin
zu verlassen hätte. Bis dahin sollte die Botschaft unter polizeiliche Be-
wachung gestellt werden. Scheidemann erklärte in dieser Sihung: Der
Bolschewismus ist heut die größere Gefahr als die Entente.
Es war wohl keiner unter uns, der nicht von der Notwendigkeit durch-
drungen war, die Mehrheitssozialdemokraten gegen die Anabhängigen stark
zu machen.
Der „Vorwärts"“ schrieb am Morgen des 5. November:
„Das stärkste Argument aber geht immer darauf hinaus, es handle sich nicht
um eine Frage der Person, sondern des Systems, nicht um Wilhelm II. oder
Regentschaft, sondern um Monarchie und Republik. Darin liegt vielleicht ein
Stück werdender Wahrheit. Noch vor kurzem ist der Gedanke an einen Thron-
wechsel auch vielen grundsätzlichen Monarchisten spmpathisch gewesen, weil sie
hofften, eine weitergehende Bewegung durch einen Thronwechsel abschnüren zu
können. Diese Möglichkeit bestand zweifellos und besteht wohl auch noch jetzt.
Aber die Toten reiten schnell, und die manchen „revolutionär“ scheinenden Lö-
sungen von heute sind die konservativen von morgen.
Die Sozialdemokratie ist eine grundsätzlich demokratische Partei, die aber —
siehe Bebel — auf die bloße Form der repräsentativen Spitze bisher nie ent-
scheidenden Wert gelegt hat. Die Aus sicht, sich in einer jungen Republik
vielleicht 30 Jahre lang mit royalistischen Don Quichottes berum-
schlagen zu müssen und dadurch notwendige innere Entwicklungen
gestört zu sehen, gehört ja auch nicht zu den angenehmsten. Wird aber
die Frage der Staatsform in Deutschland akut, so wird niemand daran zweifeln,
wo die deutsche Sozialdemokratie ihrer ganzen Vergangenheit nach ihre Stellung
nehmen wird.
So wäre die Politik unserer Gegner in der Kaiserfrage vielleicht wieder einmal
eine Holitik der verpaßten Gelegenheiten gewesen, wenn nicht noch in letzter
Stunde eine Regelung gefunden wird.“
Die Aufrichtigkeit und Dringlichkeit dieses Hilferufes war nicht zu ver-
kennen. Er entsprach einer wahrhaft verzweifelten Lage, aus der nur der
Kaiser die Mehrheitssozialdemokraten befreien konnte. Im Hauptquartier
aber war Kampfesstimmung. In einer Depesche von Herrn v. Grünau vom
1 Von mir gesperrt.
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