Im Feldlazarett zu Lille
Pastor O. Niedner in Knauthain, während des Feld-
zuges Divisionspfarrer bei den sächsischen Truppen, be-
richtet um Weihnachten 1914 aus Lille:
Drei große Kriegslazarette sind hier untergebracht in
18 verschiedenen Hospitalen, Kollegien, Lyzeen. Wie in
einem großen Staubecken sammeln sich hier aus den Feld-
lazaretten die Verwundeten, es mögen augenblicklich wohl
3000 oder mehr hier liegen. Alte Leute sind dabei, mit
eisgrauen Haaren und halbe Kinder. Im Hospital de la
Treille liegt ein Untersekundaner mit Lungenschuß, er ist
vor drei Wochen 16 Jahre alt geworden. Die Schwester
ist ganz besonders gut und mütterlich zu ihm: „Fritz muß
jetzt folgen, Fritz muß schön ruhig liegen, Fritz muß jetzt
sein Süppchen essen“, und der Junge, der doch ein ganzer
Held war, schaut sie dankbar an und folgt.
Aber wieviel namenlosen Jammer sieht man, wenn
man von Lazarett zu Lazarett geht, und dabei ist es
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feld, die Wut auf England; mit dem Franzosen kämpft
man, weil man muß, aber den Engländer, der die Ver-
wundeten abschlachtet, der als Kopfjäger mit der Fernrohr-
büchse vom Baum aus den Kameraden abgeschossen hat,
genau so sportmäßig und kalt, wie er in Nizza Tauben
schoß, den haßt man.
Aber man findet auch Schönes, so viel schlichte Fröm-
migkeit an den Betten der Verwundeten, sie erzählen, wie
sie wieder beten gelernt haben draußen in den Schützen-
gräben. Sie schreiben sich das Datum des Tages in das
bleine neue Testament, das der Feldgeistliche ihnen reicht.
Ein ganz Schwerverwundeter sagt mir: „Herr Pastor,
ich weiß, daß ich wieder gesund werde, ich habe zu Hause
eine so fromme Frau, die betet viel für mich!“ Sie werden
alle weich, wenn man von ihrer Frau und ihren Kindern
redet, sie holen ein zerdrücktes Bild heraus mit einem glück-
lichen Lächeln: „Das ist sie, das ist der Junge, vor vier
Wochen ist noch ein Mädel gekommen, das habe ich nun
noch nicht gesehen, was meinen Sie, ob ich wohl zur
so rührend, Erholung
wie jeder werde nach
meint, er Hause ge-
habe noch schickt wer-
besonderes den?“ Die
Glück ge- Offiziere
habt und haben die
sei noch Bilder der
ganzerträg- Ihren mit
lich wegge ein paar
kommen. kleinen Nä-
Was haben Kgelchen
die Leute über ihrem
zum Teil Bett an der
durchge- Wand fest-
macht! " gemacht.
Vorn im Nun schaut
Feldlaza die ferne
— Gattin we-
erzählte mir nigstens im
ein bärti- Bilde auf
ger Land- ihren Hel-
wehrmann, den hernie-
der Frau der. Was
und Kinder wird sie sa-
zu Hause Ein zerschossenes sächsisches Offiziersquartier im Osten gen, das
bat, wie er wird noch
— der Sturmangriff war nicht geglückt — wenige
Meter vor den englischen Schützengräben liegen blieb,
von zwei Kugeln getroffen. Als es dunkel wurde,
kamen die Engländer heraus und fingen an, die
deutschen Verwundeten mit dem Bajonett zu erstechen.
Vier Stiche hat er in den Rücken bekommen, als der Eng-
länder zum fünften Male nach seinem Kopfe stach, fing
er das Bajonett mit der Hand ab. Da setzte das deutsche
Feuer wieder ein, und der Halunke flüchtete. Er ist dann
in dieser und der folgenden Nacht zurückgekrochen. Drei
Tage hat er im Freien gelegen, dann erst ist er gefunden
und verbunden worden, aber sein Mut war ungebrochen;
stolz erzählte er mir, wie der Arzt gesagt habe, er müsse
doch eine Pferdenatur haben. Und keinem Engländer wird
er, wenn er wieder hinauskommt, Pardon geben, das
weiß er schon heute. Einem Unteroffizier hat die Granate
den Unterkiefer glatt weggerissen, die Wunde sieht fürchter-
terlich aus, er muß mit der Sonde ernährt werden, er kann
nicht reden, aber eifrig deutet er gleich, als ich an sein
Bett trete, auf das blutbeschmutzte Band des Eisernen
Kreuzes an seinem Rock, das Kreuz selbst hat er in Kampf
und Not längst wieder verloren.
Eins haben sie alle mit hereingebracht vom Schlacht-
eine schwere Stunde werden, wenn sie erfährt, der Arm
ist abgenommen. Eine schnell weggewischte Träne läuft
über das so energische Gesicht.
Die Fahne weht, das Sturmhorn ruftl
Im Januar 1915 besetzten zwei Kompagnien eines
sächsischen Infanterie-Regiments ein Grabenstück in der
Champagne, dessen rechter Flügel nur 30 Meter vom Feinde
entfernt war.
Eines Morgens griffen die Franzosen nach äußerst hef-
tiger Artillerievorbereitung die Stellung des Bataillons an.
Es gelang ihnen, den Graben des rechten Flügels zu nehmen.
Die Reserven des Bataillons, die hinter einem Wald-
stück aufgestellt waren, wurden sofort entwickelt und sollten
zum Gegenstoß antreten. Die Schützenlinien gingen mit
größter Todesverachtung vor. Als sie aber die Zone des
feindlichen Sperrfeuers durchschreiten mußten, traten so
starke Verluste ein, daß die Vorwärtsbewegung zeitweise
ins Stocken geriet. Da entrollte der Fahnenträger, Unter-
offizier Arno Kunath aus Borna, die Fahne, stellte
sich hochaufgerichtet auf einen Erdaufwurf und schwenkte
weithin sichtbar die Fahne. Ob auch viele, viele in seiner
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