Full text: Sachsen in großer Zeit. Band I. (1)

Rekruten in ihrem „Puppenstande“. Jeder scheint die 
doppelte Menge Blutes mitzubringen, so rosig sieht er 
drein. Und er horcht auf die neuen Weisheiten, kaum daß 
er den bunten RNock anhat, als lauere der Feind an der 
nächsten Straßenecke. Der ebene Kasernenhof wird schon 
in der ersten Woche zu enge. Man strebt hinaus auf den 
ausgedehnten Truppenübungsplatz mit seinem hügeligen 
Gelände, seinen Waldchen, seinen Verstecken, bald auch in 
die weitere Umgebung, die in ihrer Mannigfaltigkeit den 
Krieg am besten vortäuscht. Vor Sonnenaufgang beginnt 
der Marsch, der von Woche zu Woche an Dauer zunimmt, 
im gleichen Verhältnis, wie das Gepäck, das der Mann 
auf dem Rücken trägt, schwerer und schwerer wird. Wie 
mancher lernt erst jetzt die Schönheit der Landschaft kennen, 
in die er vielleicht hineingeboren ist. Das dunkle Grau 
der scheidenden Nacht, in dem die Dinge ungesondert, zu 
Klumpen geballt, chaotisch schlafen, legt im Bereiche der 
ersten Kilometer nur langsam, von fünfhundert zu fünf- 
bundert Meter, ein kaum merkbares Schleierlein ab; 
100 
erakt sind; und die vielen, die beim „Faust“ schon auf- 
hören, kommen nie zu ihnen, wie viel Freude sie auch 
daran hätten. An so einem Soldatenmorgen könnten Gna- 
den wie diese Goetheschen Paraphrasen vom Genius emp- 
fangen sein. In ihnen quillts und quirlts von Kraft 
der Anschauung, der Intuition; und wir sind alle gesund 
wie er, der die Natur so anschwärmen konnte, wir sind 
sogar stabsärztlich bestätigt gesund. Nerven — gibt's das 
noch wie einst? Ein Herz, das sich meldet, ist Konter- 
bande in unsern Reihen. Unsre Sinne sind robust genug, 
die vier Spielleute, die vor marschieren, nur weil sie gute 
Lungen haben, für gute Musiker zu halten. Und dabei 
geht's ihnen oft um die ganzen Töne daneben. Das ist 
kein Kinderspiel fürs Ohr. Das verlangt Widerstand höch- 
ster Ordnung. Jedesmal, wenn die Fermate des „Hurra- 
marsches“ herausgeschmettert wird, ob C, Cis oder D, bleibt 
ohne Einfluß, brüllt der Dank für diese Lippen= und 
Lungenleistung aus dreihundert Kehlen. 
Die gelben Häuserwände an der Ostseite lecken begierig 
  
  
  
dann aber geht's schnell geschwinder, und die fallende am Licht und werden beim knirschendsten Schneewetter 
Hülle wird - warm, wie 
immer dich- das Papier, 
teren Gewe- auf dem ich 
bes. Wenn schreibe, sich 
man da ein- am Schim- 
malzwei Mi- mer meiner 
nuten nicht Petroleum- 
aufgepaßt lampe 
oder recht wärmt. Die 
innig nach erste Nast 
Hause ge- zwingt selbst 
dachthat, wo die stumpfen 
die Liebsten Gesellen der 
noch ruhen, Kompagnie 
ist einem zu einem 
plötzlich die Freudenruf, 
Sonne zur der dembunt 
Seite, eine lasierten 
breite, un- Flusse, den 
heimliche, breiten Wol- 
gelbe Masse kenkänken 
am östlichen Feldbäckerei undden zart- 
Himmel, die wogenden 
aller Augen auf sich zieht. Und ihr Weckwerk beginnt. 
Jeder weiß, wir werden der Natur erst ganz froh, 
wenn wir sie in künstlerische Parallele stellen. So dumm 
und so gebildet sind wir nun einmal. Wir möchten sie 
malen oder gemalt sehen; an sich macht sie uns noch nicht 
den richtigen Spaß. Namen von vornehmstem Klange 
treten uns auf die Junge, die uns irgendwann einen Mor- 
gen im Bilde nahegebracht haben. Aber ein Bild wie dies 
heute erlebte, das „gemalt geradezu unglaubhaft in den 
Farben wirken würde“, hat gewiß „noch keiner bis heute 
gesehen“. Uberhebung und Wahrheit gemischt! Der wirk- 
liche Fluß und der Wald, das wirkliche Dorf lächelt — 
ich sehe es ihm an — philosophisch über unsern kleinlichen 
Ordnungssinn, der auch die Schönheit der Wandlung ge- 
bannt wissen will. Sie lächeln ein Terzett über und und 
den Morgenhimmel hin, wandeln sich unaufhörlich weiter, 
schmücken sich unbekümmert, ungekränkt und unerschöpf- 
lich, als Natur! Diese Natur, die so gescheit ist, daß sie 
uns durchschaut, denkt vielleicht, da sie ein gutes Gedächt- 
nio hat, an ein paar Sätze zurück, die ihr ein Liebling 
dereinst ins Stammbuch geschrieben und die es wohl wert 
sind, auch in ihr, der Unbestechlichen, einige Eitelkeit wach- 
zurufen. Sie stehen im Eingang zu Goethes naturwissen- 
schaftlichen Schriften. „Die Natur. Ein Fragment“ sind 
sie genannt. Die wenigen Leser, die bis dorthin vorrücken, 
überspringen sie gern, weil sie wissenschaftlich nicht ganz 
Silberbüschen des jenseitigen Ufers gilt. Es gibt kein Auge, 
das in diesem einzigen künstlerischen Kino der Welt gleich- 
gültig bleiben könnte. Zieht man einmal einen Handschuh 
aus, guckt einen kurgen Nu auf den glatten Weg, gleich 
ist der Film weitergerollt: war's erst ein Hobbema, so 
ist's jetzt ein Thoma. 
Beides gehört zum Ersatzbataillon: der Krieg draußen 
und die freie, immer wechselnde Natur um uns herum. 
Die Nachrichten aus dem Hauptquartier machen uns das 
frühe Aufstehen leicht, die ewig frische, in Reichtum über- 
schäumende Natur erhält uns bei guter Laune. 
Dann wird eine kriegsgemäße Stellung bezogen, heute 
eine der Vorpostenruhe, morgen eine der Angriffslust. 
Bald graben wir uns ein, bald stören wir das Lager des 
eingegrabenen Gegners. Auch gegenseitig werfen wir uns 
aus den Deckungen. Nichts aber macht dem „Lanzer“ 
mehr Spaß, als eine Umgehung, ein drüben unverhoffter 
Flankenvorstoß. Oder eine Verfolgung, die das Opfer 
über eine ungedeckte Höhe treibt. Da haben sie doch zent- 
nerdicke Ziele, mannshohe! Und dazu ein bischen Phan- 
tasie — dann sehen die feldgrauen Hosen rot aus oder 
schottische Unterröcke wehen an ihrer Stelle. Das sind 
Soldatengenüsse feinster Sorte. 
Nun gar die Nachtfelddienste! Auf Lautlosigkeit und 
Aneinanderkleben gebaut. Eine Linie von dreihundert Meter 
soll im Dunkeln vorrücken, ohne daß ein Kommando feind-
	        
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