Wie ein heller Schrei klingt er über die Gräben der
Sachsen hin, und in der gleichen Sekunde tauchen aus der
Erde die Hunderte von Feldgrauen heraus, als wären sie
ein einziger Leib mit einem einzigen Willen. Ein brau-
sendes Hurral! Und wie flinke, an allen Gliedern geschmei-
dige Knaben, so jagen die 30= und 40 jährigen Männer die
Wiese hinauf, mit gefälltem Bajonett, dem Feinde ent-
gegen. Mich reißt es mit — man kann doch in solcher
Minute nicht ruhig und unbeteiligt stehen bleiben! Und
während ich zwischen den Sachsen über die Wiese empor-
hetze, daß mir der Atem vergeht, habe ich die Empfindung
einer schönen, wunderbaren Stille. Ob die Russen noch
schossen, noch einen Widerstand versuchten? Ich weiß es
nicht! Als die Drahthindernisse mit dem Spaten zerschlagen
waren, und als wir eindrangen in die Höfe des Festungs-
werkes, standen
zwischen zerrisse-
nen Leichen die
noch lebenden Rus-
sen zu vielen Hun-
derten unbeweg-
lich umher, wie
stumpfsinnig ge-
wordene Geschöp-
fe, die ein Blitzstrahl
streifte und mit
Betäubung über-
goß, und überall
lagen umherge-
streute Flinten,
Geschütze und Ma-
schinengewehre
und so unglaub-
liche Mengen von
Munition, daß der
Feind sich in die-
sem Fort noch Wo-
chen und Monate
hätte halten kön-
nen. Auf einem
Geleise, das aus
dem Festungstor
hinausführt zu den
Gärten des Forts,
stehen viele Roll-
wagen mit schwe-
ren Granaten bela-
den. Man erkennt:
Das Festungswerk
sollte für einen langen und zähen Widerstand mit
einer noch größeren Munitionsmenge versehen werden;
aber Meister Beseler und die Sachsen der Brigade
Pfeil waren flinker im Angriff als die Russen in ihrer
Fürsorge. Ein feiner und würdiger Zusammenhang, daß
diese tapfere, sturmflinke Brigade der Sachsen gerade Pfeil
beißt .. Ein paar von den mit Granaten beladenen Roll-
wagen sind- Umgestürzt, und der ganze Weg ist überstreut
mit den blinkenden Geschossen, eine große Wiese ist dicht
überschüttet mit diesen mächtigen Stahlbohnen. Während
ich da durchsteige, muß ich an den Eiertanz der Mignon
denken. Aber weiter, weiter! Zum Schauen ist keine Zeit.
Ich höre ein ruheloses Dröhnen und Donnern vom nächsten,
drei Kilometer entfernten Fort II herüberhallen. Auch da
drüben scheint der Augenblick für den siegreichen Sturm zu
reifen. . . Ich hetze einer Schwarmreihe nach, die gegen
die dreikuppelige Kirche von Alexandryjska stürmt, und
merke jetzt, daß ich nicht allein bin. Der junge Chauffeur
meines Autos ist mir treulich auf allen Wegen nachge-
sprungen... Wir beide waren um den großen Kirchengarten
Der vorderste Beobachtungsstand einer Stellung im Westen
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von Alerandrysska herumgesprungen, und nun erreichten wir
hinter der Kirche die zur Zitadelle führende Alleestraße
Sie ist leer. Auch auf den Feldern und an den nahen Wald-
säumen ist nirgends ein Mensch zu sehen, kein Feldgrauer
und auch kein Russe. Und da erkennt mein Auge, das an
die Bilder der Natur gewöhnt isi, auf etwa 1500 Meter
am Waldessaume zur Rechten einen schwärzlichen Fleck,
der nicht Natur ist.
Ich spähe durch mein Fernrohr: „Herr Gott — eine
russische Kanone, noch eine, zwei, drei, eine ganze Batterie!“
Sie scheint verlassen zu sein. Ich sehe keine Mannschaft.
Da muß man doch hinüber! Kanonen sind wie Kinder;
man muf sie beaufsichtigen. ·
Wir laufen durch eine Wiesensenkung, und als
wir über die Deckung hinausgucken, fangen drei von
den fünf eisernen
Kindchen plötzlich
zu brüllen an.
Wir sehen den
Rauch und die
Feuerblitze, die
aus ihren Mäulern
fahren. „Flink, da
müssen wir die
Sachsen holen!“
Während wir
zurückspringen ge-
gen die Allee, plat-
zen über der feind-
lichen Batterie die
deutschen Schrap-
nellgeschosse mit
gelbgrünen Nauch-
wolken, und ich
sehe durch mein
Glas, daß sieben
oder acht von den
russischen Kano-
nieren nach rechts
hinüberhuschen
gegen ein Obst-
wäldchen, das in-
mitten der Wiese
liegt. Auf der
Straße begegnen
wir einer Pa-
trouille von vier
Sa'#sen. Weil une
die solgenden
Stunden zu Kameraden machten, habe ich ihre Na-
men in mein Notizbuch eingeschrieben: Der Gefreite
Folke, und die Soldaten Kirsten, Herpich, Bi-
schof. Alle vier nicken gleich und kommen mit,
um die russische Batterie mit Beschlag zu belegen.
Die Kanonen am Waldsaum feuern nimmer, auch die
deutschen Schrapnellschüsse machen eine wohlwollende
Pause.
Flink über die Wiese hinüber. Bei dem Obstwäldchen
kommt uns mit drei weinenden Weibsleuten, die wie rasend
davonsausen, ein russischer Kanonier entgegen, ein Pole,
der gleich einem Irrsinnigen immer lacht und schwaßt
und gestikuliert. Das deutsche Eisenkonzert dieses Nach-
mittags scheint ihm die Sinne völlig verwirrt zu haben
— wer diese Orgeltöne hörte, wer diesen Schauer von
Qualen erlebte und diese feuerspritzende Hölle sah, be-
greift es. Immer verrückter redet und lacht der Pole.
Keiner von uns Sechsen versteht, was er sagen will.
Aus seinen deutenden Gesten glaube ich zu erraten:
Er will uns mitteilen, daß hier und da und dort
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