Full text: Sachsen in großer Zeit. Band I. (1)

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Ich holte mir zur Vorsorge von einem Neubau eine 
sechs Meter lange Stange, die ich, wenn nötig, als Kletter- 
stange verwenden wollte. Die andern machten mir das 
nach, und das war gut, sonst wären sie weder hinein noch 
hinausgekommen. Kurz vor 12 Uhr machten wir uns auf 
den Weg. Es war uns mitgeteilt, daß der Parlamentär 
nicht wiedergekommen wäre und deshalb 12 Uhr das Bom- 
bardement beginnen würde, aber nach dei Innern der 
Stadt; wir brauchten deshalb in den Gräben nichts zu 
befürchten. Eine Infanteriepatrouille war schon bis an 
den ersten Graben gewesen und hatte festgestellt, daß 
ein Drahtzaun davor war, und der Graben selbst etwa 
fünf Meter tief und trocken war. Die guten Leute dachten 
MWunder, was sie geleistet hatten, weil sie eben keine Pioniere 
waren und die Anlagen von Festungen nicht kannten. 
Drahtscheren hatten wir mitgenommen, und so machten 
wir uns zuerst einmal daran, in der ganzen Linie den 
schönen Stacheldrahtzaun zu zekschneiden. Dann krochen 
wir, fast unhörbar, in der Dunkelheit und dem Nebel ge- 
schützt auf dem Bauche 6 
bis an den ersten Gra- 
benrand. Ein Seiten- 
gewehr wurde bis ans 
Heft in die Erde ge- 
sioßen und ein Tau 
daran befestigt, um 
beim Hinunterklettern 
einen Halt zu haben. 
Vorsichtig — man 
konnte ja nicht wissen, 
was im Graben oder 
auf dem gegenüber- 
liegenden Wall war — 
rutschte ich auf dem 
Bauche die Graben- 
wand hinunter. Dann 
wurde unsere Kletterstange heruntergelassen und meine 
beiden Leute folgten. 
Die vier Meter breite Grabensohle war mit Gras be- 
wachsen, ebenso wie die beiden nächsten Gräben, die wir 
zu unserm Erstaunen noch fanden. Die jenseitige Graben- 
wand war eine sechs Meter hohe Mauer. Hier begann 
nun die Schwierigkeit des Unternehmens. Es war eigentlich 
selbstverständlich, daß dort oben mindestens Posten waren. 
Aber zu unserm Glück hatten weder die Franzosen noch 
Engländer mit so einer Frechheit gerechnet. Bei deutschen 
Truppen wäre das unmöglich gewesen. 
Schon hier zeigte sich der Wert unserer Kletterstange. 
Sie wurde an die Wand gelehnt, von meinen beiden 
Leuten gehalten, und ich kletterte hoch, den Nevolver am 
Niemen freigemacht und das Seitengewehr zwischen den 
Rockknöpfen. Endlich war ich oben und versuchte, mich 
durch einen Klimmzug auf den mit Nasen bewachsenen 
Mauerrand emporzugiehen. Nachdem ich mich überzeugt 
hatte, daß kein Mann in der Nähe war, gab plötzlich 
das Erdreich oben nach, an dem ich mich festhielt, und ich 
stürzte wieder herunter und blieb auf dem Rücken liegen. 
Auch meine beiden Leute warfen sich sofort hin und 
drückten sich an die Mauer, denn durch den Fall mußte 
ein Posten, falls einer in der Nähe war, aufmerksam ge- 
worden sein. Zehn Minuten blieben wir unbeweglich liegen, 
aber es rührte sich nichts. Nun begannen wir von neuem, 
schnürten aber an unsere Stange oben ein Gewehr quer 
an, um darauf treten zu können und einen Halt zu haben. 
So ging es ganz gut, der letzte Mann wurde an einem 
Tau bochgezogen. 
Vorsichtig, wieder auf dem Bauche kriechend, arbeiteten 
wir uns auf die Böschung hinauf und entdeckten zu unserer 
Überraschung keinen einzigen Posten, dafür aber einen 
Sächsische Gedenkmünze 
  
auf die Einnahme von Lille 
zweiten Graben, der noch viel tiefer und beschwerlicher 
war als der erste. Es gab aber für uns keine Uberlegung 
weiter; wir hatten einmal A gesagt, also mußten wir auch 
B sagen. Nach einer halben Stunde hatten wir, wie vor- 
ber, die zweite Wallböschung erklommen, ohne etwas vom 
Feinde zu bemerken, sahen aber zu unserm Schrecken einen 
viel tieferen Graben. Auch da mußten wir durch. 
Während die ersten beiden Gräben trocken waren, zog 
sich auf der Sohle dieses dritten ein allerdings nur schmaler 
Wassergraben hin, der aber doch den Ubergang erschwerte. 
Da wir bisher gar keinen Posten getroffen hatten, waren 
wir nun auch dreister geworden, wir unterhielten uns 
zwar gedämpft, aber immer noch so laut, daß man es 
oben hätte hören können. Ich kletterte an der Böschung — 
es war diesmal keine Mauer — hinauf. Ich war kaum 
halb oben, da sehe ich zu meinem Schrecken auf dem oberen 
Glaciskamm langsamen Schrittes, nichts Böses ahnend, 
einen Posten kaum 20 Meter entfernt herankommen. Wie 
nun meine beiden Kameraden warnen? — Kurz entschlossen, 
einer Eingebung fol- 
gend, reiße ich meine 
Mütze vom Koypfe, 
werfe sie hinunter und 
treffe so glücklich, daß 
sie zwischen den beiden 
niederfällt. Ich selber 
drücke mich so fest wie 
möglich an den Boden. 
Die beiden unten 
merken sofort, daß hier 
etwas nicht in Ord- 
nung sei und warfen 
sich auf die Erde. Nun 
konnte ich feststellen, 
wie schwer auf die 
10 Merer, die ich ent- 
fernt war, unsere feldgraue Uniform zu erkennen ist. Wenn 
der Franzose uns nicht gehört hatte, waren wir gerettet. 
Nach zehn langen Minuten bangen Wartens, die uns 
wie eine Ewigkeit vorkamen, und als sich nichts geregt 
batte, erklommen wir gleichzeitig zu zweit den Wall, wäh- 
rend der dritte — für den Fall, daß wir nicht wiederkamen 
— unsere Aufzeichnung mit dem Befehle erhielt, sich beim 
geringsten verdächtigen Geräusch zurückzuziehen, ohne auf 
und zu warten. Wir kamen aber unbemerkt hinauf und 
herunter. Es war nämlich noch ein vierter Graben, aber 
nun wirklich der letzte. Er war nicht so tief, dafür aber 
beiderseits steil gemauert und am Boden kreuz und quer 
mit Stacheldraht durchzogen. Hier war nun allergrößte 
Vorsicht nötig. gelang uns auch hier die nötigen Auf- 
zeichnungen zu machen über die Abmessungen und daß 
scheinbar nur ganz wenige Leute zur Besatzung da waren. 
Hineingekommen maren wir ja ganz leicht, aber heraus 
kamen wir zu unserm nicht geringen Schrecken infolge der 
hohen Mauer nicht wieder. Wir suchten hin und her, ob 
nicht irgend eine Stelle da war, wo der Aufstieg möglich 
wäre. Da fanden wir den Einlaß zu einem unterirdischen 
Gange, der wahrscheinlich dazu diente, Patrouillen in den 
vorderen Graben zu schicken. Einer nach dem andern 
schlichen wir vorwärts und kamen endlich zu einer Falltür. 
Als wir diese geöffnet hatten, stellten wir fest, daß 
wir wieder im zweiten Graben angelangt waren. Nun 
aber zurück! Unsere Kletterstange ließen wir noch zum An- 
denken da. Nach vier Stunden, gegen 4 Uhr morgens, 
kamen wir beim Regimentsstab 181 an und überbrachten 
unsere Meldung. Wir waren kaum zu unserm Zuge zurück- 
gekehrt, etwa 6 Uhr morgens, da wurde dieser in einzelnen 
Gruppen auf die zum Sturme bestimmten Kompagnien 
vom Infanterie-Regiment 181 verteilt. Da ich als Motor- 
 
	        
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