Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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am Südbahnhof (Infanterieregiment 104) wurde durch 
starkes feindliches Flankenfeuer aus Hellemmes in Schach 
gehalten, die Mitte und der linke Flügel (Infanterie- 
regiment 181) lagen noch vor den Wällen. Der einzige 
Zugang zur Stadt — die durch die Porte de Douai 
führende Straße — war starkem feindlichen Feuer ausgesetzt. 
Die Division entschloß sich jedoch, diese Lebensader der 
feindlichen Stellung unter allen Umständen zu nehmen. 
Durch Befehl vereinigte sie von 2,30 Uhr nachmittags 
ab das Feuer der schweren Artillerie auf das Tor und 
seine unmittelbare Umgebung, während für 3 Uhr nach- 
mittags der Sturm angeordnet wurde. Eine Rollsalve 
der schweren Artillerie bildete das verabredete Sturm- 
zeichen. 
Das III. Bataillon 181 war gegen das äußere, das 
I. Bataillon gegen das innere Tor angesetzt. Gemeinsam 
brachen die Sturmkolonnen beider Bataillone vor. Am 
ersten Tor entspinnt sich ein kurzer hartnäckiger Kampf. 
Die Mioniere aber sind zur Stelle und beseitigen die Hin- 
dernisse. Es geht vorwärts. Das erste Tor ist genommen. 
Und wiederum heftiges Infanteriefeuer, Knattern der Ma- 
schinengewehre und das Donnern von zwei Geschützen 
des 68. Feldartillerieregiments, die, dem Regiment bei- 
gegeben, dichtauf folgen. Der Sturm gegen das zweite 
Tor, die Porte de Douai, beginnt. Die Pioniere beseitigen 
wiederum die starken Hindernisse, die Infanterie folgt 
dichtauf, und vorwärts geht es in die Porte de Douai 
binein, wo den Angreifern aus den gegenüberliegenden 
Häusern heftiges Feuer entgegenschlägt. Jedoch schon 
schieben Artilleristen, unterstützt durch Infanteristen, die 
Geschütze durch das Tor und eröffnen ein Schnellfeuer 
auf die umliegenden Häuser und Straßen, die Maschinen= 
gewehre sind auf dem inneren Wall in Stellung gegangen 
und siehen den großen Schwestern bei. Ein Höllenkonzert 
ist es auf dem engen Torplatz, aber es genügt, um binnen 
kurzem den feindlichen Widerstand zu brechen. Leider wird 
der schneidige Führer der beiden Geschütze, Leutnant Elßner, 
als er aufrechtsiehend seinen Geschützen die Nichtung an- 
weist, tödlich verwundet. 
Als eben die Sturmkolonnen weiter nach dem Stadt- 
innern sich in Bewegung setzen wollen, erscheint ein Par- 
lamentär des Kommandanten bei dem Kommandeur des 
Infanterieregiments 181, Obersileutnant Freiherr v. Welck. 
Eine Stunde später konnte der Kommandeur der 40. In- 
fanteriedivision, der sich sofort in die Stadt begab, die 
erfolgte bedingungslose Ubergabe von Stadt und Besatzung 
melden und dem Armeeführer, dem bayrischen Kronprinzen, 
den Degen des Festungskommandanten übersenden. 
So war Lille unser. Gerade noch zur rechten Zeit 
hatte die deutsche Heeresleitung Hand auf die wichtige 
Stadt legen können. Bei dem Kommandanten von fille 
vorgefundene Papiere besagten klar, daß dieser den Be- 
fehl batte, bis zum 14. Oklober abends Lille unter allen 
Umständen zu halten. Bis zu diesem Zeitpunkt wollten 
die Vortruppen der von Dünkirchen—Calais—Boulogne 
antransportierten starken englisch-französischen Armee Lille 
entseht haben. Unsere tapferen Kavalleriekorps hatten, mit 
dem Karabiner im Schützengraben liegend, diesem Vor- 
haben einen eisernen Riegel vorgeschoben, aber lange hätten 
sie dem immer stärker werdenden Druck kaum noch stand- 
halten können. 
Mehrere im Laufe des 12. Oktobers eingehende Mel- 
dungen bestätigten ferner übereinstimmend die Anwesen- 
heit feindlicher Kräfte nördlich Lille etwa in der Linie 
der belgischen Grenze. Wie es sich später herausstellte, 
waren hier tatsächlich an der belgischen Küste gelandete 
englische Kräfte im Vormarsch auf Lille gewesen. Die 
rasche Besetzung der Stadt und der bereits fühlbar 
werdende Druck der durch Nordflandern vorgehenden 
Truppen des Generals v. Beseler und des Herzogs Albrecht 
von Württemberg hatten sie jedoch wohl veranlaßt, in 
westlicher Richtung abzuziehen, und so kam nur die Ka- 
vallerie des XIX. Armeekorps mit ihnen in Berührung. 
Es galt nun, die eroberte Festung so rasch zu sichern, 
als es der Zustand der Truppen erlaubte, die nach sieben- 
tägigen Gewaltmärschen 24 Stunden gefochten hatten. 
Lille war mittlerweile nahezu umstellt. Die Abteilung 
v. Wahnschaffe hatte sich auf unmittelbaren Befehl des 
Oberkommandos am 12. anstatt auf Hellemmes nördlich 
um die Stadt herumgezogen und schloß sie etwa zwischen 
La Madeleine und St.-André ab; im Westen hatte am 
12. Oktober nachmittags die 39. Brigade des XIX. Armee- 
korps Lambersart erreicht und bewirkte den Abschluß von 
Wesien. 
In der Stadt selbst aber herrschten Schrecken und Ver- 
wirrung. Hier und dort krepierten immer noch Artillerie= 
geschosse von entfernter stehenden deutschen Batterien, denen 
die Ubergabe noch nicht bekannt geworden war. Die fran- 
zösische Besatzung stand größtenteils noch unter den 
Waffen sie erfuhr erst im Laufe der Nacht und am 
andern Morgen, daß die Kapitulation abgeschlossen sei. 
Das über der ganzen Stadt lagernde Dunkel wurde schauer- 
lich durch die an vielen Stellen entstandenen Brände er- 
bellt. Das Feuer griff rasch um sich, krachend stürzten 
hohe Gebäude zusammen. 
Hier Ordnung zu schaffen, war in Anbetracht der ge- 
ringen zur Verfügung stehenden Kräfte schwer. Als erste 
rückten sofort nach der Ubergabe die Sturmtruppen des 
Infanterieregiments 181 mit den am Sturm beteiligten 
Zügen der 3. Pioniere 22 und Feldartillerieregiment 68 
in die Stadt auf die Place de la Nepublique. Ergreifend 
erscholl hier das „Nun danket alle Gott“ der Sieger 
zum blutigroten Nachthimmel empor. Teile des Regi- 
ments rückten nach dem Markthallenplatz an der Nue 
de Solferino ab. Dort wurde mit der Entwaffnung der 
Gefangenen begonnen, die in der Halle untergebracht wur- 
den. Eine Kompanie wurde mit einem Zuge der 2. Batterie 
Feldartillerieregiments 68 auf die Zitadelle geschickt. Dort 
hatte der als Nachrichtenoffizier des Armeeoberkom= 
mandos 6 bei der 40. Infanteriedivision anwesende 
Hauptmann Lübcke bereits die ersten Anordnungen zur 
Entwaffnung getroffen. Hier wie an andern Stellen sahen 
sich oft schwache deutsche Abteilungen stärkeren noch be- 
waffneten französischen gegenüber, und nur durch sehr 
energisches Auftreten konnte die rasche Waffenniederlegung 
des Gegners erreicht werden. 
Der Kommandierende General des XIX. Armeekorps 
zog am Morgen des 13. Oktobers in die Stadt ein. Auf 
der Place de la Republique begrüßte er am Fuße des 
Faidherbe-Denkmalo Teile der Sturmtruppen und sprach 
ihnen seine Anerkennung aus. 
Reich war die Beute. Über 4500 Gefangene, darunter 
ein Regiment Chasseurs à cheval und eine starke Ab- 
teilung Spahis, waren in die Hände des Siegers gefallen. 
Eine Feldkanonenbatterie, ein Flugzeug, über 200 Ge- 
schütze der Festungsarmierung und reiches Kriegsmaterial 
lagen noch unberührt in den Arsenalen und Forts. 
Während dag XIX. Armeekorps bereits am 13. in 
die wesiliche Frontlinie einrückte, übernahm es das 
Detachement v. Wahnschaffe, in dem Chaos Ordnung zu 
schaffen. Wochen vergingen, bis die Festung unter dem 
inzwischen eingesetzten Gouvernement das friedliche Bild 
deutscher Zucht, Sauberkeit und Ordnung bot, das heute 
den, der die Hauptstadt von Flandern zum erstenmale 
betritt, so seltsam und heimatlich anmutet.“ — 
Soweit der Bericht der Liller Kriegszeitung, dessen Schluß 
nach dem Ende, das der Krieg genommen hat, wehmütig 
berührt.
	        
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