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am Südbahnhof (Infanterieregiment 104) wurde durch
starkes feindliches Flankenfeuer aus Hellemmes in Schach
gehalten, die Mitte und der linke Flügel (Infanterie-
regiment 181) lagen noch vor den Wällen. Der einzige
Zugang zur Stadt — die durch die Porte de Douai
führende Straße — war starkem feindlichen Feuer ausgesetzt.
Die Division entschloß sich jedoch, diese Lebensader der
feindlichen Stellung unter allen Umständen zu nehmen.
Durch Befehl vereinigte sie von 2,30 Uhr nachmittags
ab das Feuer der schweren Artillerie auf das Tor und
seine unmittelbare Umgebung, während für 3 Uhr nach-
mittags der Sturm angeordnet wurde. Eine Rollsalve
der schweren Artillerie bildete das verabredete Sturm-
zeichen.
Das III. Bataillon 181 war gegen das äußere, das
I. Bataillon gegen das innere Tor angesetzt. Gemeinsam
brachen die Sturmkolonnen beider Bataillone vor. Am
ersten Tor entspinnt sich ein kurzer hartnäckiger Kampf.
Die Mioniere aber sind zur Stelle und beseitigen die Hin-
dernisse. Es geht vorwärts. Das erste Tor ist genommen.
Und wiederum heftiges Infanteriefeuer, Knattern der Ma-
schinengewehre und das Donnern von zwei Geschützen
des 68. Feldartillerieregiments, die, dem Regiment bei-
gegeben, dichtauf folgen. Der Sturm gegen das zweite
Tor, die Porte de Douai, beginnt. Die Pioniere beseitigen
wiederum die starken Hindernisse, die Infanterie folgt
dichtauf, und vorwärts geht es in die Porte de Douai
binein, wo den Angreifern aus den gegenüberliegenden
Häusern heftiges Feuer entgegenschlägt. Jedoch schon
schieben Artilleristen, unterstützt durch Infanteristen, die
Geschütze durch das Tor und eröffnen ein Schnellfeuer
auf die umliegenden Häuser und Straßen, die Maschinen=
gewehre sind auf dem inneren Wall in Stellung gegangen
und siehen den großen Schwestern bei. Ein Höllenkonzert
ist es auf dem engen Torplatz, aber es genügt, um binnen
kurzem den feindlichen Widerstand zu brechen. Leider wird
der schneidige Führer der beiden Geschütze, Leutnant Elßner,
als er aufrechtsiehend seinen Geschützen die Nichtung an-
weist, tödlich verwundet.
Als eben die Sturmkolonnen weiter nach dem Stadt-
innern sich in Bewegung setzen wollen, erscheint ein Par-
lamentär des Kommandanten bei dem Kommandeur des
Infanterieregiments 181, Obersileutnant Freiherr v. Welck.
Eine Stunde später konnte der Kommandeur der 40. In-
fanteriedivision, der sich sofort in die Stadt begab, die
erfolgte bedingungslose Ubergabe von Stadt und Besatzung
melden und dem Armeeführer, dem bayrischen Kronprinzen,
den Degen des Festungskommandanten übersenden.
So war Lille unser. Gerade noch zur rechten Zeit
hatte die deutsche Heeresleitung Hand auf die wichtige
Stadt legen können. Bei dem Kommandanten von fille
vorgefundene Papiere besagten klar, daß dieser den Be-
fehl batte, bis zum 14. Oklober abends Lille unter allen
Umständen zu halten. Bis zu diesem Zeitpunkt wollten
die Vortruppen der von Dünkirchen—Calais—Boulogne
antransportierten starken englisch-französischen Armee Lille
entseht haben. Unsere tapferen Kavalleriekorps hatten, mit
dem Karabiner im Schützengraben liegend, diesem Vor-
haben einen eisernen Riegel vorgeschoben, aber lange hätten
sie dem immer stärker werdenden Druck kaum noch stand-
halten können.
Mehrere im Laufe des 12. Oktobers eingehende Mel-
dungen bestätigten ferner übereinstimmend die Anwesen-
heit feindlicher Kräfte nördlich Lille etwa in der Linie
der belgischen Grenze. Wie es sich später herausstellte,
waren hier tatsächlich an der belgischen Küste gelandete
englische Kräfte im Vormarsch auf Lille gewesen. Die
rasche Besetzung der Stadt und der bereits fühlbar
werdende Druck der durch Nordflandern vorgehenden
Truppen des Generals v. Beseler und des Herzogs Albrecht
von Württemberg hatten sie jedoch wohl veranlaßt, in
westlicher Richtung abzuziehen, und so kam nur die Ka-
vallerie des XIX. Armeekorps mit ihnen in Berührung.
Es galt nun, die eroberte Festung so rasch zu sichern,
als es der Zustand der Truppen erlaubte, die nach sieben-
tägigen Gewaltmärschen 24 Stunden gefochten hatten.
Lille war mittlerweile nahezu umstellt. Die Abteilung
v. Wahnschaffe hatte sich auf unmittelbaren Befehl des
Oberkommandos am 12. anstatt auf Hellemmes nördlich
um die Stadt herumgezogen und schloß sie etwa zwischen
La Madeleine und St.-André ab; im Westen hatte am
12. Oktober nachmittags die 39. Brigade des XIX. Armee-
korps Lambersart erreicht und bewirkte den Abschluß von
Wesien.
In der Stadt selbst aber herrschten Schrecken und Ver-
wirrung. Hier und dort krepierten immer noch Artillerie=
geschosse von entfernter stehenden deutschen Batterien, denen
die Ubergabe noch nicht bekannt geworden war. Die fran-
zösische Besatzung stand größtenteils noch unter den
Waffen sie erfuhr erst im Laufe der Nacht und am
andern Morgen, daß die Kapitulation abgeschlossen sei.
Das über der ganzen Stadt lagernde Dunkel wurde schauer-
lich durch die an vielen Stellen entstandenen Brände er-
bellt. Das Feuer griff rasch um sich, krachend stürzten
hohe Gebäude zusammen.
Hier Ordnung zu schaffen, war in Anbetracht der ge-
ringen zur Verfügung stehenden Kräfte schwer. Als erste
rückten sofort nach der Ubergabe die Sturmtruppen des
Infanterieregiments 181 mit den am Sturm beteiligten
Zügen der 3. Pioniere 22 und Feldartillerieregiment 68
in die Stadt auf die Place de la Nepublique. Ergreifend
erscholl hier das „Nun danket alle Gott“ der Sieger
zum blutigroten Nachthimmel empor. Teile des Regi-
ments rückten nach dem Markthallenplatz an der Nue
de Solferino ab. Dort wurde mit der Entwaffnung der
Gefangenen begonnen, die in der Halle untergebracht wur-
den. Eine Kompanie wurde mit einem Zuge der 2. Batterie
Feldartillerieregiments 68 auf die Zitadelle geschickt. Dort
hatte der als Nachrichtenoffizier des Armeeoberkom=
mandos 6 bei der 40. Infanteriedivision anwesende
Hauptmann Lübcke bereits die ersten Anordnungen zur
Entwaffnung getroffen. Hier wie an andern Stellen sahen
sich oft schwache deutsche Abteilungen stärkeren noch be-
waffneten französischen gegenüber, und nur durch sehr
energisches Auftreten konnte die rasche Waffenniederlegung
des Gegners erreicht werden.
Der Kommandierende General des XIX. Armeekorps
zog am Morgen des 13. Oktobers in die Stadt ein. Auf
der Place de la Republique begrüßte er am Fuße des
Faidherbe-Denkmalo Teile der Sturmtruppen und sprach
ihnen seine Anerkennung aus.
Reich war die Beute. Über 4500 Gefangene, darunter
ein Regiment Chasseurs à cheval und eine starke Ab-
teilung Spahis, waren in die Hände des Siegers gefallen.
Eine Feldkanonenbatterie, ein Flugzeug, über 200 Ge-
schütze der Festungsarmierung und reiches Kriegsmaterial
lagen noch unberührt in den Arsenalen und Forts.
Während dag XIX. Armeekorps bereits am 13. in
die wesiliche Frontlinie einrückte, übernahm es das
Detachement v. Wahnschaffe, in dem Chaos Ordnung zu
schaffen. Wochen vergingen, bis die Festung unter dem
inzwischen eingesetzten Gouvernement das friedliche Bild
deutscher Zucht, Sauberkeit und Ordnung bot, das heute
den, der die Hauptstadt von Flandern zum erstenmale
betritt, so seltsam und heimatlich anmutet.“ —
Soweit der Bericht der Liller Kriegszeitung, dessen Schluß
nach dem Ende, das der Krieg genommen hat, wehmütig
berührt.