Der Streit um die rechte Art der Wehrübung hat einen
guten Teil der Kriegsjahre ausgefüllt. Es mag vorgreifend
schon hier berichtet werden, daß in Sachsen mit wenig
Auênahmen von Anfang an der Standpunkt der allge-
meinen Wehrübung vertreten worden ist und daß hier die
Wehrvorbereitung in militärischer Form bei weitem nicht
die Verbreitung gefunden hat wie z. B. in Preußen.
Die Jugendpflege
Seit 100 Jahren sind in den verschiedenen Staaten
Europas immer wieder Bestrebungen für die Wehrhaft-
machung der Jugend aufgetaucht. Besonders in unruhigen
und kriegerischen Zeiten gewannen diese Bestrebungen Ver-
breitung, am stärksten im letzten Jahrzehnt vor dem Welt-
kriege. Besonders in Frankreich, England und Italien leitete
man mit Eifer und Gründlichkeit die Wehrvorbereitung der
Jugend in die Wege. Nachträglich erkennen wir aus diesen
Vorkehrungen, daß die
Regierungen jener Völ-
ker den Überfall auf
Deutschland auch auf
diesem Gebiet vorbe-
reitet haben.
Schon 1881 bewil-
ligte Frankreich eine
Million Franken für die
Errichtung der Schüler-
bataillone, die als
„Hoffnung und Retter
des Vaterlandes“ be-
zeichnet wurden. Sie
verschwanden aber bald
wieder, und 1801 wurde
die Wehrvorbereitung
auf festere Grundlagen
aufgebaut: In den
Schulen wurde die kör-
perliche Ausbildung der
geistigen gleichgestellt,
die Rekrutenprüfung
und das Militärtüchtig-
beitszeugnis, das dem Inhaber rasche Beförderung im
Heeresdienst, Wahl der Truppe und andere Vergünstigungen
gewährt, wurden eingeführt, der Schießunterricht der Jugend
eingerichtet und endlich wurden die Vereine für Leibes=
übungen gefördert und unter behördlichen Schutz gestellt.
Während des Krieges ist ein Gesetz über den Wehrübungs-
zwang eingebracht worden, dessen Annahme zwar noch aus-
steht, aber zweifellos ist.
In England verbreitete sich gewaltig die Organisation
der boy scouts (Knabenspäher), die als „Padfinder-
bewegung“ auch in Deutschland Eingang fand, und 1908
wurde an den höheren Schulen und Universitäten das Offi-
ziersausbildungokorps ins Leben gerufen.
In Italien begann ein „Jentralausschuß für nationales
Schießwesen und körperliche Ausbildung zu militärischem
Zwecke“ zu arbeiten, und die Regierung unterstützte seine
Bestrebungen durch tiefeinschneidende Bestimmungen: Zum
Einjährigendienst, zur Reifeprüfung und zu akademischer
Prüfung werden nur solche junge Leute zugelassen, die wenig-
stens vierjährige Beteiligung bei der Jugendwehr nach-
weisen.
Selbst das ferne Japan ging seit 1895 so gründlich an
die Ausgestaltung der Wehrvorbereitung, daß seine Ein-
richtungen die europäischen weit in den Schatten stellen.
Um die gleiche Zeit arbeiteten in Deutschland die Turn-
vereine getreulich weiter wie seit 530 Jahren und einige neue
Bestrebungen mit ähnlicher Wirkung kamen auf: der Zen-
Dresdner Jugendbund (Rast)
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tralausschuß für Volks= und Jugendspiel, die Wandervögel,
der Jungdeutschlandbund, die Pfadfinder, Spiel= und
Sportvereine. Eine weitere Anzahl von Vereinen sorgten
wenigstens nach der geistig-moralischen Seite für unsere
Jugend: die kirchlichen Jugendorganisationen beider Kon-
fessionen, die kaufmännischen Verbände u. a. Ein gut
Stück war Sachsen auch denjenigen Bundesstaaten voraus,
die noch keine verbindliche Fortbildungsschule haben. Doch
umfaßte diese nur die Jugend von 14 biö 17 Jahren und
war, wenigstens bis dahin, in den meisten Fällen eine
bloße Unterrichtsschule, die auf die Erziehung wenig
Einfluß ausübte. Nach den Angaben des Statistischen
Landesamtes hat Sachsen rund 280 coo männliche Jugend-
liche zwischen 14 und 20 Jahren. Von diesen besuchen etwa
17000 die höhere Schule. 55 000 gehören der deutschen
Turnerschaft an, 14 000 den Jünglingsvereinen, 7000 den
Verbänden der Handlungsgehilfen, schätzungsweise 10 oo
den Sportvereinen. Das sind also rund nur 100 000
Jugendliche, an deren
Ertüchtigung gearbeitet
werden konnte, soweit
sie sich zu den Ubungen
und Unternehmungen
wirklich einfanden. Der
größere Teil der säch-
sischen Jugend, rund
180 000, waren ohne
alle Vorbereitung. Auch
die Organisationen, die
sich der Jugend an-
nahmen, betonten mehr
die gesundbeitliche und
erziehliche Wirkung der
Lcibesübung als den
Gedanken der Wehr-
haftmachung, und die
Regierungen standen
diesen Bestrebungen
zvar woblwollend, aber
untätig gegenüber. So
erfuhr die bürgoerliche
Wehrkraft in Deutsch=
land und auch bei uns in Sachsen nur eine geringe Steige-
rung. Auf der andern Seite waren sogar Kräfte am
Werke, die sie bedrohlich minderten. Die Sozialdemokratie
hatte ihre Jugend in Turn-, Spiel-, Gesangs= und Fort-
bildungsvereinen zusammengeschart, wo ihr neben vielem
Guten auch mancher Gedanke beigebracht wurde, der die
Grundlagen unserer Wehrkraft antastete.
Diesen beiden Erscheinungen — fieberhafte Wehrvorberei-
tung im Auslande, Wehrkraftsminderung im Inlande —
konnten die deutschen Regierungen nicht länger mit ver-
schränkten Armen zusehen. Die Jugendpflege wurde
eingeführt.
Was ersirebte sie?
Solange der junge Deutsche die Schule besucht, wurde
bio dahin seine künftige militärische Tüchtigkeit vorbereitet
durch Unterricht, Schulzucht und Turnen, das allerdings
in Sachsen nur über zwei Wochenstunden verfügte. Die
weitere Vorbereitung des Vaterlandsverteidigers erfolgte
dann erst in der Zeit des Militärdienstes. So klaffte zwischen
Schule und Heerespflicht in der Erziehung des Deutschen
eine Lücke, eein Spalt in unserer Volbserziehung“, wie
man gesagt hatte: „Unser Rüstungskleid hatte noch ein
Loch“. Der Jüngling, weder geistig-moralisch fertig, noch
körperlich reif, war sich selbst, dem Zufall und unkontrol-
lierbaren Einflüssen überlassen. Ein aufsehenerregendes
Buch von Richard Nordhausen „Zwischen 14 und 18“
erinnerte damals den Staat an seine Plicht.