Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

Der Streit um die rechte Art der Wehrübung hat einen 
guten Teil der Kriegsjahre ausgefüllt. Es mag vorgreifend 
schon hier berichtet werden, daß in Sachsen mit wenig 
Auênahmen von Anfang an der Standpunkt der allge- 
meinen Wehrübung vertreten worden ist und daß hier die 
Wehrvorbereitung in militärischer Form bei weitem nicht 
die Verbreitung gefunden hat wie z. B. in Preußen. 
Die Jugendpflege 
Seit 100 Jahren sind in den verschiedenen Staaten 
Europas immer wieder Bestrebungen für die Wehrhaft- 
machung der Jugend aufgetaucht. Besonders in unruhigen 
und kriegerischen Zeiten gewannen diese Bestrebungen Ver- 
breitung, am stärksten im letzten Jahrzehnt vor dem Welt- 
kriege. Besonders in Frankreich, England und Italien leitete 
man mit Eifer und Gründlichkeit die Wehrvorbereitung der 
Jugend in die Wege. Nachträglich erkennen wir aus diesen 
Vorkehrungen, daß die 
Regierungen jener Völ- 
ker den Überfall auf 
Deutschland auch auf 
diesem Gebiet vorbe- 
reitet haben. 
Schon 1881 bewil- 
ligte Frankreich eine 
Million Franken für die 
Errichtung der Schüler- 
bataillone, die als 
„Hoffnung und Retter 
des Vaterlandes“ be- 
zeichnet wurden. Sie 
verschwanden aber bald 
wieder, und 1801 wurde 
die Wehrvorbereitung 
auf festere Grundlagen 
aufgebaut: In den 
Schulen wurde die kör- 
perliche Ausbildung der 
geistigen gleichgestellt, 
die Rekrutenprüfung 
und das Militärtüchtig- 
beitszeugnis, das dem Inhaber rasche Beförderung im 
Heeresdienst, Wahl der Truppe und andere Vergünstigungen 
gewährt, wurden eingeführt, der Schießunterricht der Jugend 
eingerichtet und endlich wurden die Vereine für Leibes= 
übungen gefördert und unter behördlichen Schutz gestellt. 
Während des Krieges ist ein Gesetz über den Wehrübungs- 
zwang eingebracht worden, dessen Annahme zwar noch aus- 
steht, aber zweifellos ist. 
In England verbreitete sich gewaltig die Organisation 
der boy scouts (Knabenspäher), die als „Padfinder- 
bewegung“ auch in Deutschland Eingang fand, und 1908 
wurde an den höheren Schulen und Universitäten das Offi- 
ziersausbildungokorps ins Leben gerufen. 
In Italien begann ein „Jentralausschuß für nationales 
Schießwesen und körperliche Ausbildung zu militärischem 
Zwecke“ zu arbeiten, und die Regierung unterstützte seine 
Bestrebungen durch tiefeinschneidende Bestimmungen: Zum 
Einjährigendienst, zur Reifeprüfung und zu akademischer 
Prüfung werden nur solche junge Leute zugelassen, die wenig- 
stens vierjährige Beteiligung bei der Jugendwehr nach- 
weisen. 
Selbst das ferne Japan ging seit 1895 so gründlich an 
die Ausgestaltung der Wehrvorbereitung, daß seine Ein- 
richtungen die europäischen weit in den Schatten stellen. 
Um die gleiche Zeit arbeiteten in Deutschland die Turn- 
vereine getreulich weiter wie seit 530 Jahren und einige neue 
Bestrebungen mit ähnlicher Wirkung kamen auf: der Zen- 
  
Dresdner Jugendbund (Rast) 
415 
tralausschuß für Volks= und Jugendspiel, die Wandervögel, 
der Jungdeutschlandbund, die Pfadfinder, Spiel= und 
Sportvereine. Eine weitere Anzahl von Vereinen sorgten 
wenigstens nach der geistig-moralischen Seite für unsere 
Jugend: die kirchlichen Jugendorganisationen beider Kon- 
fessionen, die kaufmännischen Verbände u. a. Ein gut 
Stück war Sachsen auch denjenigen Bundesstaaten voraus, 
die noch keine verbindliche Fortbildungsschule haben. Doch 
umfaßte diese nur die Jugend von 14 biö 17 Jahren und 
war, wenigstens bis dahin, in den meisten Fällen eine 
bloße Unterrichtsschule, die auf die Erziehung wenig 
Einfluß ausübte. Nach den Angaben des Statistischen 
Landesamtes hat Sachsen rund 280 coo männliche Jugend- 
liche zwischen 14 und 20 Jahren. Von diesen besuchen etwa 
17000 die höhere Schule. 55 000 gehören der deutschen 
Turnerschaft an, 14 000 den Jünglingsvereinen, 7000 den 
Verbänden der Handlungsgehilfen, schätzungsweise 10 oo 
den Sportvereinen. Das sind also rund nur 100 000 
Jugendliche, an deren 
Ertüchtigung gearbeitet 
werden konnte, soweit 
sie sich zu den Ubungen 
und Unternehmungen 
wirklich einfanden. Der 
größere Teil der säch- 
sischen Jugend, rund 
180 000, waren ohne 
alle Vorbereitung. Auch 
die Organisationen, die 
sich der Jugend an- 
nahmen, betonten mehr 
die gesundbeitliche und 
erziehliche Wirkung der 
Lcibesübung als den 
Gedanken der Wehr- 
haftmachung, und die 
Regierungen standen 
diesen Bestrebungen 
zvar woblwollend, aber 
untätig gegenüber. So 
erfuhr die bürgoerliche 
Wehrkraft in Deutsch= 
land und auch bei uns in Sachsen nur eine geringe Steige- 
rung. Auf der andern Seite waren sogar Kräfte am 
Werke, die sie bedrohlich minderten. Die Sozialdemokratie 
hatte ihre Jugend in Turn-, Spiel-, Gesangs= und Fort- 
bildungsvereinen zusammengeschart, wo ihr neben vielem 
Guten auch mancher Gedanke beigebracht wurde, der die 
Grundlagen unserer Wehrkraft antastete. 
Diesen beiden Erscheinungen — fieberhafte Wehrvorberei- 
tung im Auslande, Wehrkraftsminderung im Inlande — 
konnten die deutschen Regierungen nicht länger mit ver- 
schränkten Armen zusehen. Die Jugendpflege wurde 
eingeführt. 
Was ersirebte sie? 
Solange der junge Deutsche die Schule besucht, wurde 
bio dahin seine künftige militärische Tüchtigkeit vorbereitet 
durch Unterricht, Schulzucht und Turnen, das allerdings 
in Sachsen nur über zwei Wochenstunden verfügte. Die 
weitere Vorbereitung des Vaterlandsverteidigers erfolgte 
dann erst in der Zeit des Militärdienstes. So klaffte zwischen 
Schule und Heerespflicht in der Erziehung des Deutschen 
eine Lücke, eein Spalt in unserer Volbserziehung“, wie 
man gesagt hatte: „Unser Rüstungskleid hatte noch ein 
Loch“. Der Jüngling, weder geistig-moralisch fertig, noch 
körperlich reif, war sich selbst, dem Zufall und unkontrol- 
lierbaren Einflüssen überlassen. Ein aufsehenerregendes 
Buch von Richard Nordhausen „Zwischen 14 und 18“ 
erinnerte damals den Staat an seine Plicht.
	        
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