Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

daß sinnloser, geschmackwidriger Kram entsteht, der sich 
dann in den Stuben unserer Bürgerfamilien breit macht 
und aus Mitleid geduldet wird. Wenn die Lazarettarbeit 
in der vorgeschriebenen Weise gepflegt wird, erweist sie 
sich als ein Erziehungomittel von größerer Bedeutung, 
als es auf den ersten Blick erscheint. Unser Volk ge- 
schmacklich zu heben, es empfänglich zu machen für die 
Schönheit und Wahrhaftigkeit echter Handwerkskunst, die 
doch letzten Endes der Niederschlag der Volksstimmung ist, 
dafür kämpfen mit unblutigen Waffen seit Jahren Dürer-, 
Werkbund, die Vereine Heimatschutz Uu. a. m. Durch die 
Beeinflussung der Kranken in den Ldazaretten ist uns ein 
Mittel in die Hand gegeben, eine Gelegenheit geboten, wie 
sie wohl nicht sobald wiederkehren wird. Benützen wir sie 
zum - unseres Handwerkes, ja unseres gesamten 
Volkes! 
Neben diesen mehr indirekten Wirkungen der Lazarett- 
arbeit wird der unmittelbare, den Heilerfolg bestimmende 
Wert mehr in den Vordergrund gerückt. Handelt es sich 
doch darum, die verstümmelten und versteiften Glieder 
nach und nach möglichst erfolgreich an ihre frühere Tätig- 
keit zu gewöhnen. Hierbei tritt der Arbeitserfolg selbst- 
verständlich vollkommen zurück, die zu erzielende Heil- 
wirkung ist ausschlaggebend. Desbalb ist es unbedingt er- 
forderlich, daß in diesen Fällen allein der behandelnde 
Arzt das bestimmende Wort zu sprechen hat. Er wird die 
Techniken wählen und dabei erwägen, ob die Tätigkeit 
dem Kranken nützt und dieser durch die Arbeit angeregt 
wird. Alles andere ist zunächst nebensächlich. Es leuchtet 
ohne weiteres ein, daß der Kranke ein Glied lieber bewegt, 
wenn er dabei eine in die Augen springende, zielstrebige 
Arbeit verrichtet, als wenn er die Bewegungen an einem 
Apparat ausführt, nur eben, weil es der Arzt vorgeschrieben 
hat. Auc diesem Grunde sucht auch der einsichtovolle Arzt 
die mediko-mechanischen Apparate nach Möglichkeit durch 
praktische Arbeitsgeräte und Werkzeuge zu ersetzen, ganz 
abgesehen davon, daß die angeführten sinnreich aufgebauten 
und darum oft sehr umfangreichen und kostspieligen Heil- 
geräte in vielen Fällen schwierig zu beschaffen sind. 
Immerhin erfordert die Ausführung der Ubungen, auch 
wenn sie rein praktischer Art sind, Maschinen, Werkzeuge 
und andere Arbeitsgeräte, vor allen auch besondere, hierzu 
geeignete Näume. Denn nur die einfachsten Handbetäti- 
gungen lassen sich ohne Störung des Lazarettbetriebes in 
den Krankensälen ausführen. 
Aus dieser Erkenntnis heraus errichtete man an vielen 
Orten in unmittelbarem Zusammenhang mit den Lazaretten, 
wenn möglich in engster Verbindung mit diesen sog. 
Lehrwerkstätten. 
Der oberste Zweck dieser Einrichtungen ist demnach in 
der Unterstützung des ärztlichen Heilverfahrens zu suchen. 
Eo ist grundsätzlich zunächst gleichgültig, welche Tätig- 
keiten au#geübt werden. Denn, um seine versteiften Finger 
zu üben, kann der Maurer ebenso vorteilhaft sich mit Buch- 
binderarbeit beschäftigen, wie der Konditor; Bein= und Arm- 
beschädigte jeden Berufes schaffen an der Drehbank und 
Bohrmaschine, auch wenn sie vorher diese Maschinen kaum 
gesehen haben und später voraussichtlich nie wieder be- 
nutzen werden, und auch für den Nichtzeichner sind die 
Freiarmzeichnungen nicht bloß lehrreich, sondern heilsam. 
Da viele der Kriegsbeschädigten von vornherein glauben, 
ihre verletzten Glieder kaum wieder nutzbringend gebrauchen 
zu können, liegt in der Arbeit mit wenig bekanntem Ma- 
terial und ungewohntem Werkzeug ein besenkrer Anreiz, 
der sie oft fast gegen ihren Willen veranlaßt mitzutun. 
Gar mancher, der zunächst spöttisch lächelnd an die Be- 
schäftigung herangeht, wird nach kurzer Zeit ein eifriger 
Arbeiter und spürt bald die heilsame Wirkung, den Segen 
der Tätigkeit. 
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Denn sehr bald ist in den meisten Fällen zu sehen, 
daß sie Geschicklichkeit sich schneller bemerkbar macht, als 
angenommen wurde. Mit dieser Erkenntnis wächst aber 
das Selbstvertrauen der Genesenden; neben dem körper- 
lichen Zustand bessert sich das seelische Befinden. Die 
praktische Arbeit erweist sich also in börperlicher und gei- 
stiger Richtung hier als ein Heilmittel, und es ist schwer 
festzustellen, welchen Erfolg wir höher einzuschätzen haben. 
Unstreitig ist es vor allem wichtig, daß der Kranke, neben 
der fortschreitenden Heilung, wieder zu sich und seinen 
Leistungen Vertrauen bekommt. 
Die an ihrem Körper so schwer beschädigten Krieger 
vor allem diejenigen, die den Verlust eines oder mehrerer 
Glieder zu beklagen haben, halten es fast immer für 
ganz ausgeschlossen, den alten Beruf wieder aufzunehmen. 
Das ist wohl zu begreifen. Wir brauchen nur z. B. einem 
  
Kriegsreschädigter Lehrer mit ein facher Armprothese schreibend 
(Einarmerschule Heimatdank Leipzig) 
stark Kurzsichtigen die Augengläser zu nehmen, um ihn 
in eine fast völlig hilflose Lage zu versetzen, aus der er 
sich erst allmählich selbst befreien kann. In noch viel 
höherem Maße tritt diese Erscheinung zutage beim Ver- 
lust eines Gliedes, vor allem eincs solchen, das im Be- 
ruf die wichtigsten Verrichtungen augübte. Dazu kommen 
noch das gestörte Allgemeinbefinden, die überreizten Nerven, 
die klares Denken und Überlegen beeinflussen. Zuletzt mag 
vielleicht auch hier und da die Aussicht auf ein vorteil- 
haftes „Umsatteln“ mitspielen. 
Eo ist ja bekannt, daß schon in Friedenszeiten mancher 
Gewerbsgehilfe gern sein gelerntes Handwerk an den Nagel 
hing, um „Beamter“ zu werden. Nicht allein deshalb, weil 
ihm der erstrebte Beruf mehr lohnend oder weniger an- 
strengend dünkte, sondern weil er glaubte, auf der sozialen 
Stufenleiter eine Sprosse höher steigen zu können. Dazu 
kommt noch die Aussicht auf eine „sichere“ Stellung und 
in vielen Fällen die im späten Alter winkende „Pension“, 
eine Alteroversorgung, die, nüchtern berechnet, gar nicht 
so leicht erkauft wird. Ganz abgesehen davon, daß bei dem 
Drängen nach diesen, sagen wir einmal „gelehrten“ Berufen 
unstreitig ein bedenkliches Proletariat großgezogen wird, muß 
vom sozialpolitischen Standpunkt aus, wie schon eingangs
	        
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