Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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Genuß, ja manchmal sogar mit einer Spur von Neid, 
wie geschickt sich Einarmer als Turner bewegen, wie sie 
Ball spielen, schwimmen, das Gewehr laden, abschießen 
und auch das Ziel treffen, wie gewandt sie sich anziehen, 
wie sicher sie die Eßgeräte bewegen und, nicht zu ver- 
gessen, mit welcher Fertigkeit sie Karten spielen. Ich habe 
Violinspielern zugehört, die den Bogen mit der künstlichen 
Linken führten und die das Tenorhorn und die Trompete 
bliesen. Flöten für Einhändige wurden schon vor hundert 
Jahren gebaut, und eine dem gleichen Zweck dienende Klari- 
nette gab es schon im 18. Jahrhundert. 
Bei den meisten der besprochenen Fertigkeiten beruht die 
Geläufigkeit der Finger weniger auf gesteigerter körperlicher 
Fertigkeit, als auf der durch Energie erworbenen geistigen 
Regsamkeit, dem Willen, die Glieder zu beherrschen. Die 
Schulung der Glieder ist also in erster Linie eine Schulung 
des Willens. „Der Wille siegt“ ist der Titel der lesens- 
werten Schrift des Erziehungsdirektors Würtz in Zehlen- 
dorf, in der an der Hand geschichtlicher Tatsachen der 
Beweis zu dem Angeführten erbracht wird. 
Der Unterricht wird den Einarmern, in den meisten 
Fällen kommen Linkshänder in Betracht, nicht nur ein 
Teil der Geschicklichkeit wiedergeben, die sie früher be- 
saßen, er wird ihnen auch die Fähigkeit verleihen, die 
Zukunft etwas weniger trüb zu betrachten. Erst wenn der 
Kriegsbeschädigte wieder Schaffensfreude besitzt, wenn er 
den Glauben an sich selbst wiedergefunden hat, wird er 
zielbewußt daran gehen, sich wieder für seinen bürgerlichen 
Beruf vorzubereiten. 
Daß der Krieg vielen Tausenden die Möglichkeit genommen. 
hat, wieder zur alten, liebgewordenen Arbeitsstelle zurück- 
zukehren, ist eine unleugbare Tatsache, mit der wir ung 
abfinden müssen. Aber ebenso können wir feststellen, daß 
jetzt für die Verwundeten, insbesondere für die Kriegs- 
beschädigten, die wohl kaum wiederkehrende Gelegenheit 
geboten ist, sich im alten bzw. auch in einem neuen Be- 
rufe gründlich auszubilden. Behörden und Schulen kom- 
men ihnen im weitesten Maße entgegen, die besten Lehrer 
und Fachgenossen widmen sich in aufopfernder Weise, um 
den Wissenskreis dieser außerordentlichen Schüler zu er- 
weitern und deren fachtechnisches Können zu fördern. 
Die ganze Art, wie die Berufsausbildung der 
Kriegsbeschädigten im Deutschen Reiche erfaßt 
worden ist und betrieben wird, ist ein eigenartiges Kapitel 
zum „Aufstieg der Begabten“. Bekanntlich ist es einer der 
schwersten Vorwürfe, die gegen unser hochentwickeltes 
Schulwesen erhoben wurden, daß der Begabte auf allen 
Lebensgebieten sich nur dann ohne besondere Schwierig- 
keiten behaupten und zu einer höheren Stufe durchringen 
kann, wenn er den Nachweis einer bestimmten Schul- 
bildung beibringt. Und das gleichviel, ob er nach der Schul- 
zeit eifrig gearbeitet hat-oder nicht. Dieser Auswuchs des 
Berechtigungswesens hat sich bis zu einem gewissen Grade 
auch auf Gewerbe und Handel übertragen. 
Der Krieg hat gezeigt, daß es im Leben nicht auf ein 
behördlich auf dem Papier abgestempeltes, sondern ein 
wirklich vorhandenes Maß von Wissen und Können an- 
kommt, und daß es völlig gleichgültig ist, wie und wo# 
sich der einzelne seine Bildung erworben hat. Nicht neue 
Berechtigungen gilt es zu schaffen, sondern möglichst viele 
Möglichbeiten, auch im spätern Alter das in der Jugend 
(meist ohne eigne Schuld) Versäumte nachzuholen. Des- 
halb stehen auch den Kriegsbeschädigten alle Tore offen, 
die ihm Zugang verschaffen zu den fast ungezählten Mög- 
lichkeiten, sich Wissen und Können anzueignen. Und die 
Fälle werden auch wohl zu zählen sein, daß der eine oder 
andere unachtsam und gleichgültig die Hilfe ausschlägt, die 
ihm hier nie wiederkehrende Gelegenheit bietet. 
Wenn auch bei den weitaus meisten unserer Kriegs- 
beschädigten das Hauptgewicht auf das technische Können 
gelegt werden muß, gleichgültig, ob es sich um Weiterbildung 
im biseherigen oder Anlernung eines neuen Berufes han- 
delt, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß eine Ver- 
tiefung der Allgemeinbildung für alle vom größten 
Nutzen sein kann. Das wird um so leichter auszuführen 
sein, da ja unser Schulwesen auch im entlegensten Dorf den 
Grund hierzu gelegt hat. Schwierigkeiten bilden wohl die 
großen Ungleichheiten, die der Lehrende zu überwinden hat. 
Aber auch hier wird der geschickte Lehrer — die Erfahrung 
hat dies bestätigt — die Eigenarten seiner Schüler gegen- 
einander ausspielen. Wohl besitzt der Arbeiter aus der 
Großstadt in der Regel einen umfangreicheren Schatz von 
Wissen und verfügt über eine raschere Auffassungogabe 
als sein Kamerad vom Lande. Aber an Gründlichkeit und 
Tiefe der Gedanken ist ihm dieser oft bei weitem über- 
egen. 
Die Lehrgänge für allgemeine Fortbildung 
sind in jedem Lazarett vorhanden oder diesem an- 
gegliedert. Sie dienen keinem bestimmten Beruf und 
wollen sich absichtlich auch nicht in wissenschaftliche Einzel- 
heiten verlieren. Es gilt vielmehr aus den eben gesagten 
Gründen den Angehörigen aller Berufsarten eine Auf- 
frischung und Ergänzung ihrer Schulkenntnisse zu bieten. 
Obenan steht natürlich unsere Muttersprache, mit der bei 
aller Liebe zu ihr gar mancher Feldgraue im beständigen 
Kampfe liegt. Hat er doch oft seit seiner Schulzeit, der er 
vielfach nicht allzuviel Tränen nachweinte, außer den un- 
vermeidlichen Ansichtskarten, kein größeres Schriftwerk ver- 
faßt. Und die Rechnungen usw., die mancher brave Hand- 
werker verfaßt, muten oft wie Abschriften aus Witzblättern 
an. Es gilt nun nicht, schöngeistige deutsche Aufsätze 
zu schreiben, in mehreren Teilen, mit vorangestelltem Man, 
sondern unsere wackeren Krieger zu befähigen, die im Be- 
ruf und bürgerlichen Leben vorkommenden schriftlichen Ar- 
beiten ohne wesentliche Verstöße gegen die Regeln der 
Rechtschreibung und der Sprachlehre auszuführen. Ebenso 
wichtig ist die Kenntnis und das Erfassen des Wesens der 
einfachen Buchführung, die Führung der wichtigsten Ge- 
schäftsbücher, die Bekanntschaft mit dem bargeldlosen Zah- 
lungsverkehr. Alles dies einigermaßen zu beherrschen wird 
auch den in einfachsten Verhältnissen Lebenden von aller- 
größtem Nutzen sein. Die kleinen Handwerkobetriebe kran- 
ken ja oft geradezu an dem ungeordneten Schriftwerk, und 
jeder Wirtschaftsbetrieb wird sich heben, wenn der Haus- 
herr seinem Geschäftsverkche etwas kaufmennischen 
Schwung verleiht. 
Daß hierzu eine geläufige oder wenigstens nicht unge- 
lenke Handschrift die notwendige Unterstützung ist, wird 
auch der bestätigen, der da sieht, welchen Empfehlungsbrief 
der Besitzer einer flotten Feder besitzt. Die Gelegenheit 
zur Verbesserung der Handschrift benutzen darum die mei- 
sten Kriegobeschädigten aus einfachen Verhältnissen, auch 
wenn sie nicht unmittelbar die Absicht haben, ihr ferneres 
Fortkommen in einem Berufe zu suchen, in dem eine gute 
Schrift verlangt wird. Im Anschluß hieran wird auch in 
den meisten Lehrgängen für Allgemeinbildung eine Ein- 
führung in die Kurzschrift geboten. Für Sachsen kommt 
da wohl immer die Gabelsberger Verkehrsschrift in Frage. 
Wenn auch die meisten der Kriegsbeschädigten dieser Lehr- 
gänge in der Kurzschrift es wohl kaum zu einer Geläufig- 
beit bringen werden, die eine Voraussetzung berufsmäßiger 
Ausübung ist, werden doch alle den großen Nutzen und 
die Vorteile der erworbenen Fertigkeiten verspüren und 
anerkennen. - 
Mit der Buchführung im engsten Zusammenhang steht 
das Rechnen. Auch hier handelt es sich bei den meisten 
um eine Auffrischung der Rechenelemente und eine An- 
eignung der sog. Rechenvorteile. Die Fortgeschrittenen,
	        
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