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wartende Vorteil für alle Beteiligten ein sehr zweifel-
hafter ist.
Alo Leitsätze für die berufliche Beratung und Schulung
könnten demnach gelten.
1. Alle Kriegobeschädigten sollen, wenn irgend angängig,
in ihre Heimat zurückkehren.
2. Sie sollen möglichst ihrer früheren Beruf wieder aus-
üben.
3. Vom Lande Stammende sind nach Befinden vorzugs-
weise der Landwirtschaft und dem Gartenbau zuzuführen.
4. Der Zudrang zu ungelernten Berufen, als Bote,
Pförtner usw., zu niederen Beamtenstellen ist mit allen
Mitteln zu bekämpfen.
§. Ebenso ist vor Schreiberposten u. dgl. zu warnen.
6. Endlich ist in jedem einzelnen Fall möglichst persön-
lich unter Berücksichtigung der Verhältnisse und Fähig-
keiten des einzelnen vorzugehen.
Wenn schon für den gesund aus dem Felde Zurück-
kommenden in der Regel die Heimat den geeigneten Platz im
bürgerlichen Leben bieten wird, so trifft diese Wahrneh-
mung bei Kriegsbeschädigten in noch höherem Maße zu.
Viele von ihnen kehren an ihre alte Arbeitsstelle zurück.
Sie sind da mit den Verhältnissen vertraut und werden
außer den Angehörigen manchen Freund und ehemaligen
Kameraden finden, die ihnen beim Tagewerk sowohl, als
auch sonst im bürgerlichen Leben oft und gern hilfreiche
Hand leisten. Der ganze Rahmen, in dem sich die Zukunft
abspielt, ist im großen und ganzen derselbe wie früher.
Die Kriegsbeschädigten empfinden wenig oder gar nicht,
daß ihnen etwas fehlt, daß sie ein körperlicher Mangel von
den Mitbürgern unterscheidet. Dieses Heimatgefühl ist
die Grundlage des künftigen Lebensglückes, nach dem doch
wohl jeder strebt. Im Zusammenhang hiermit stehen auch
die Siedelungsbestrebungen, auf die an einer anderen Stelle
noch näher eingegangen werden wird.
Der Grundsatz, den Kriegsbeschädigten möglichst seinem
früheren Beruf wieder zuzuführen, wird nicht allenthalben
geteilt. So vertritt Oberstabsarzt Prof. Dr. Wullstein-
Bochum die Ansicht, der Verletzte ist nicht unter allen Um-
ständen seinem alten Beruf zu erhalten, sondern vielmehr
ist der Beruf möglichst den anatomischen Verhältnissen
jedes einzelnen anzupassen. Je nach der vorhandenen körper-
lichen Beschaffenheit sind die Leute in die Berufe einzu-
schulen, in denen sie nach Lage des Falles das Meiste und
Beste leisten können. So durchdacht und geschickt auch die
einzelnen Fälle nach dem System Wullstein geregelt wer-
den und so passend auch die einzelnen Berufe der Körper-
beschaffenheit der Kriegsverletzten entsprechen, kann doch der
Vorwurf der Einseitigkeit nicht ausbleiben. Denn bei der
Wahl eines Berufes sprechen in erster Linie noch ganz
andere Momente mit, die in der Regel den Ausschlag geben.
Auch der Umstand, daß Wullstein den Kriegsbeschädigten
es überläßt, aus einer Neihe von Vorschlägen den künftigen
Beruf frei zu wählen, erscheint nur auf den ersten Blick
als erstrebenswert. Sicher lassen sich da viele von Außer-
lichkeiten leiten, sie sehen zunächst nur die Aichtseiten,
genau wie bei den Postboten= und Pförtnerstellen. Gewiß
werden manche schnell überraschende Erfolge zu verzeich-
nen haben und auch mit den finanziellen Ergebnissen mehr
alo zufrieden sein. Es ist aber zu bedenken, daß die Löhne
der Jetztzeit keinen Maßstab für die Friedenswirtschaft
bieten, daß, wenn wieder geordnete Verhältnisse eintreten,
die Entlohnung sich in anderen Bahnen bewegen wird und
auch die Erwerbaomöglichkeiten überhaupt ganz anders ge-
artet sein werden. Oft wird dann der Fall eintreten, daß
mancher sich in seinen alten Beruf zurücksehnt und daß
die Rückkehr dann nicht so leicht und einfach erfolgen kann,
als zu der Zeit, da er vom Militär entlassen wurde.
Nur in dem Falle kann ich die zeitweilige Ablenkung vom
alten Berufe gutheißen, wenn es im Interesse des Heeres
ist, d. h. wenn kriegswirtschaftlich wertvolle Be-
rufe in Frage kommen. Die Fortdauer des Krieges stellte
auch an die Heimarmee, zu der die Kriegobeschädigten zu
rechnen sind, die größten Ansprüche. Dazu kam, daß
während der Kriegödauer eine ganze Reihe von Berufen
teils überhaupt ausgeschaltet waren, teilo den zeitlichen
Verhältnissen entsprechend vollständig andero arbeiteten.
Das allein genügte schon, vielfach von der auf-
gestellten Regel abzuweichen. Dazu kam aber noch, daß
im Interesse des Vaterlandes jeder Sonderwunsch zurück-
treten mußte. Aus diesem Grunde mußte die Forderung,
daß jeder kriegowirtschaftlich brauchbare Kriegsbeschädigte
zunächst einer solchen Verwendung zuzuführen ist, in der
seine Arbeit am ausgiebigsten kriegswirtschaftlich nutzbar
gemacht werden kann, obenan stehen. Solange die Vor-
bereitung und Einarbeitung für einen kriegswirtschaftlich
wertvollen Beruf unbedingte Notwendigkeit war, mußte
jede andere Unterweisung und Anlernung unterbleiben oder
wenigstens herabgemindert werden. Mit Aucnahme der
Landwirtschaft — die zu den kriegowirtschaftlich wertvollen
Betrieben zu zählen ist — mußte demnach solange der
Kie dauerte, mancher wichtige Beruf unberücksichtigt
leiben.
Dadurch wurden auch die Ausbildungolehrgänge zum
Teil erheblich gestört, und mancher Kriegsbeschädigte glaubte
vielleicht, für immer seinem früheren Berufe entsagen zu
müssen. Die angeführten Maßnahmen waren aber selbst-
verständlich nur solange notwendig, als sie eben durch den
Krieg bedingt waren. Sobald die Friedenswirtschaft sunsett
und in den kriegswirtschaftlichen Betrieben Arbeitokräfte
entbehrlich wurden, konnte man der Kriegsbeschädigten zu-
erst gedenken und zu ihrer Ausbildung alles beitragen, so-
weit dieselbe unterbrochen wurde und unvollendet blieb.
Bei der Berufsberatung der Kriegsbeschädigten können
wir in der Hauptsache zwei große Gruppen bilden, in die
sich die Mehrzahl der in Frage Kommenden einordnen
lassen: Industrie, Gewerbeund Landwirtschaft auf
der einen Seite, der Handel auf der anderen.
Die Bedeutung der Industrie ist uns kaum fühl-
barer nahe gerückt worden, als durch den Krieg. Gar man-
cher hat erst durch denselben erfahren, inwieweit Deutsch-
land seinen Feinden auf diesem Gebiete voraus ist. Diesen
Vorsprung einzuhalten, unter Umständen noch zu ver-
größern, muß unsere Aufgabe für die Zukunft sein. Das
ist auch bei der Betreuung der Kriegsbeschädigten zu be-
achten. Das große Heer der Industriearbeiter ist keines-
falls als eine seelenlose Masse zu betrachten, bei der es
gar nicht so wichtig ist, welchen Platz der einzelne einnimmt.
Die Bezeichnung „ungelernter Arbeiter“ hat vielfach zu
dieser irrigen Anschauung geführt. Würde man die treffen-
dere Benennung „angelernt“ gebrauchen, so wäre dem Frr-
tum schon von vornherein die Spitze genommen.
Der Werdegang des Industriearbeiters vollzieht sich im
allgemeinen ganz anders als der des Handwerkers. So-
wohl das äußere, wie auch das innere Verhältnis zu der
Arbeit und zum Arbeitgeber ist grundverschieden. Wäh-
rend der Industriearbeiter vom ersten Tage seiner Beschäf-
tigung eine Tätigkeit ausübt, die genau in das Getriebe
des Ganzen paßt, mit der unbedingt gerechnet und die
dementsprechend auch bezahlt wird, ist die Arbeit des jungen
Handwerkers zunächst nur mittelbar nützlich. Ersterer hat
nicht nach dem Zweck der ihm zugewiesenen Arbeit zu
fragen, für ihn kommt es nur darauf an, die ihm über-
tragenen Handgriffe und Verrichtungen möglichst vorteil-
haft und nutzbringend auszuführen. Und je gewandter er
sich dabei zeigt, je schneller und sicherer er seine Arbeits-
kraft als Teil dem Gesamtbetrieb einordnen kann, desto-
vorteilhafter ist es für die Arbeit und den Arbeiter. Der