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Das bei Besprechung der Allgemeinfortbildung Kriegs-
beschädigter Gesagte gilt besonders für den Handwerker.
Wohl bestimmt vor allem das technische Können den Wert
desselben, aber der „goldene Boden“ des Handwerks ist
nur dort zu finden, wo der Geselle und Meister auch mit
der Feder umzugehen verstehen und das Rechnen nicht als
brotlose Kunst betrachten. Mancher hat seit seiner Schulzeit
das Schreiben in der Hauptsache nur auf Ansichtskarten
geübt, Rechnen noch weniger, und beim Lesen außer der
Tageszeitung höchstens unterhaltende Schriften vorgenom-
men. Da ist es gut, wenn er in den Lehrgängen alte Kennt-
nisse auffrischt, neue erwirbt und angeleitet wird, wie
man, um die Tagesfragen zu verstehen, ohne großen Zeit-
verlust sich mit passend gewähltem Lesestoff ständig weiter-
bilden kann. Mit der Hebung der Allgemeinbildung ist
manchem Handwerker mehr gedient, als mit allerhand
technischen Winken. Denn viele Gewerbtreibende kommen
auf keinen grünen Zweig, weil sie entweder in einseitiger
Weise nur ihr Handwerk treiben oder in unverständiger
Weise sich halb und halb als „Kaufmann“ gebärden, von
dem sie nur Außerlichkeiten ablauschten.
Damit soll nicht gesagt sein, daß die Lehrgänge für
kriegsbeschädigte Handwerker ihr Hauptgewicht auf die
theoretische Seite zu legen haben. Der Unterricht muß
vielmehr so beschaffen sein, daß er dem einzelnen möglichst
das bietet, was diesem fehlt: Hier Theorie, dort Praxis!
Dechalb wird in vielen Fällen die Schule die Führung
an die Werkstatt abgeben. Fast könnte man versucht sein,
die letztere für überflüssig anzusehen, da ja unsere muster-
gültig eingerichteten und geleiteten Fach-, Gewerbe= und
Handwerkerschulen in ihrer Vielseitigkeit äußerlich alles
bieten, was bei der Ausbildung des Gesellen= und Meister-
nachwuchses notwendig ist. Aber etwas fehlt aller Schul-
arbeit doch: die unmittelbare Verbindung mit dem wirt-
schaftlichen Leben. Im freien Wettbewerb des Alltags,
wie ihn die Werkstatt des Handwerkers zeigt, wird erst
das Gefühl für die Wertschätzung der Arbeit erworben,
ohne welche das vielseitigste technische Wissen und Können
letzten Endes Stückwerk bleibt. Deshalb geben die Lehr-
gänge der Schulen bei der Ausbildung von Kriegsbeschä-
digten zum Abschluß die Führung an den erfahrenen Meister
ab, damit er in seiner Werkstatt das Schlußwort spreche.
Wenn Kriegsbeschädigte sich den Gesellenbrief erwerben
oder die Meisterprüfung ablegen wollen, wird man in
der Regel einen andern Maßstab anlegen können und müs-
sen, als es sonst der Fall ist. Was ihnen, ganz abgesehen
von dem körperlichen Schaden, an jugendlicher Beweglichkeit
abgeht, wird durch zielbewußte, ernste Auffassung aus-
geglichen. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß
ein kriegsbeschädigter Handwerker durchweg sein Ziel
schneller erreichen kann, als es sonst die Regel ist.
Aus diesem Grunde haben auch die sächsischen Gewerbe-
kammern erleichterte Bedingungen aufgestellt, nach denen
von Kriegsbeschädigten die Gesellen= bzw. Meisterprüfung
abgelegt werden kann.. Daß hierbei in manchen Punkten
grundsätzlich an den gesetzlichen Bestimmungen fesigehalten
werden muß, darf nicht als äußerliche Schwerfälligkeit an-
gesehen werden. Denn ebenso wichtig wie die Werbung
eines geeigneten Handwerker-Nachwuchses ist die gründ-
liche und umfassende Ausbildung desselben. So sehr die
Zurückführung aller kriegsbeschädigten Handwerker in ihre
frühere Tätigkeit mit allen Mitteln anzustreben, und so
willkommen gerade jetzt die Gelegenheit ist, manchem „un-
geprüften“ Gehilfen zur Gesellenprüfung zu verhelfen oder
den Weg zum Meisterstück zu ebnen, so darf doch dabei das
Mitgefühl nicht die besonnenen Erwägungen unterdrücken.
Was uns fehlt, sind nicht Handwerker an sich, sondern
tüchtige Handwerker, die den Ruf guter deutscher Werk-
kunst festigen und erhalten helfen. Wenn darum die In-
nungen auf möglichste Einhaltung der wohlerwogenen Be-
stimmungen sehen, so ist das nicht nur ihr gutes Recht,
sondern soziale Pflicht. Ein Verzichten auf ordnungogemäße
Lehrzeit bei einem Meister unmittelbar in der Werkstatt
desselben kann deohalb auch bei Kriegsbeschädigten nur in
den allerseltensten Fällen stattfinden. Wohl aber kommt
man bei der Abgrenzung der Lehrzeit nach Möglichkeit den
Wünschen des einzelnen entgegen. Denn die Gefahr, daß
Oberflächlichkeit und Pfuschertum großgezogen wird, ist bei
der Ausbildung Kriegsbeschädigter so gut wie augeschlossen.
Alle die Stellen, die sich hiermit befassen, sind sich der
Tragweite ihrer Aufgabe wohl bewußt. Schule und Hand-
werk reichen sich gegenseitig die Hand, um ohne Zeitver-
lust die ehemaligen Krieger sobald als möglich wieder als
vollwertig in die Werkstätten einzustellen. Die Chemnitzer
Schuhmacherinnung berichtet, daß schon eine Anzahl Kriegs-
beschädigter die Gesellenprüfung vorschriftsmäßig und zu-
friedenstellend abgelegt hat. Ebenso wohlwollend verhält
man sich jungen Meistern gegenüber. Der Fall, daß ein
Stellmacher die Meisterprüfung bestand, trotzdem er selbst
infolge seiner Beschädigung die rein praktischen Arbeiten
nur angeben, nicht selbst verrichten konnte, zeigt, daß
die Stärke eines Meisters nicht in der technischen Be-
herrschung seines Handwerkes liegt, sondern die Aufgaben
höher zu suchen sind. Ebenso wie Gelehrsamkeit an sich
noch nicht die Befähigung zum Lehrer in sich schließt, taugt ein
geschickter Handwerker ohne weiteres zum Meister. Als
solcher liegt ihm nicht nur die selbständige, fachgemäße Aus-
führung der Arbeiten seines Gewerbes ob, sondern auch die
Ausbildung der ihm anvertrauten Lehrlinge, eine Aufgabe,
die an Verantwortlichkeit der ersteren kaum nachsteht.
Die Vervollkommnung und Weiterbildung im eignen
Beruf ist demnach als wichtigste Aufgabe der Fürsorge
kriegsbeschädigter Handwerker gegenüber zu betrachten.
Allerdings stellen sich ihr manche Widerstände entgegen.
Mehr noch als in der Industrie ist beim Handwerk der
körperliche Zustand des Ausübenden ausschlaggebend. Han-
delt es sich hier doch nicht nur um eine bestimmte Reihe
immer wiederkehrender rein mechanischer Verrichtungen,
sondern neben geistiger Regsankeit, um allgemeine Be-
weglichkeit, schnell und sicher die verschiedensten Arbeits-
formen auszuführen. Da kann es leicht vorkommen, daß
mancher Kriegsbeschädigte beim besten Willen versagt. Er
besitzt nicht mehr die Herrschaft über seinen Körper, die
dazu notwendig ist. Ein derartig in der Bewegungsfreiheit
Behinderter kann aber vielfach sich in einem Teilgebiet seines
Gewerbes oder in einem damit in engstem Zusammenhange
stehenden Handwerk mit dem besten Erfolg einrichten.
Für einarmige Tischler, die auch mit Behelfogliedern ver-
schiedene Werkzeuge mangelhaft oder nur vorübergehend
zu führen imstande sind, ist z. B. das Beizen, Färben oder
Polieren eine ebenso geeignete, wie lohnende Tätigkeit.
Solche Sondergebiete sind ja in der Regel ungleich lohnen-
der, als das betreffende Handwerk im allgemeinen, da
derartige Facharbeiter bald eine Fertigkeit entwickeln, die
eben nur die beständige Ubung mit sich bringt. Zudem wird
auch in den meisten größeren Werkstätten aus wirtschaft-
lichen Gründen eine Arbeitsteilung ausgeübt, die derartigen
Maßnahmen entgegenkommt. Es handelt sich ja hierbei
nicht um die Erlernung eines neuen Berufes, die Eroberung
von „Neuland“. Der Kriegsbeschädigte wird vielmehr die
alten Kenntnisse und Erfahrungen mit in die Wagschale
werfen, auch wenn er Tätigkeiten ausübt, die technisch für
ihn oft völlig neu sind. Für die Anbahnung einer solchen
Sonderausbildung oder die Uberführung in einen Beruf,
der mit dem bisherigen verwandt ist, eignen sich die Lehr-
werkstätten, wic sie an Schulen oder auch in Verbindung
mit Lazaretren bestehen, ganz besonders. Hier können die
kriegsbeschädigten Handwerker erproben, welche Anforde-