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darin und davor entwickelte. Wer den, wie ich, ein Jahr
lang täglich beobachten durfte, der wird das Bild davon
nie wieder vergessen. Ich fühlte mich in das Leben und
Treiben eines großen Jahrmarktes oder eines ländlichen
Vogelschießens versetzt. Da die Zahl der Geschäfte bei
weitem nicht der Zahl der Gefangenen entsprach, so stürmten
diese förmlich jeden Morgen die Buden. Einzelne Gefangene
setzten sich bereits von morgens 2 Uhr oder noch früher
vor die Einlaßtür, um früh als erste Kunden bedient zu
werden. Einen polnischen Juden sah ich z. B. mit mehreren
Säcken versehen eines Morgens etwa gegen 4 Uhr auch
dort lagern. Um 9 Uhr traf ich ihn wieder. Er hatte
sich aus Brettern und Böcken einen Ladentisch gezimmert
und ein Eigengeschäft eröffnet. Dort verkaufte er den
Meistbietenden die Beute seines Frühgeschäftes: Brot,
Brötchen, Wurst, Butter, Fett, Speck, Schinken, Bürsten
Russische Gefangene beim Brotfassen
und, wer weiß, was noch mehr, bis ihm sein neues oder
auch altes Handwerk vom deutschen Wachtmanne gelegt
wurde. Geld hatten die Gefangenen, besonders die Fran-
zosen, die ersten Monate der Gefangenschaft im Uberfluß
und erregten damit nicht selten den Neid der deutschen
Kameraden. Dafür konnten sie sich alles leisten, was ihr
Gaumen begehrte: Kakao, Schokolade, Kaffee, Milch,
Zucker, Brot, Semmel, Zwieback, Butter, Käse, Fisch jeder
Art, Schinken, Speck usw. So feierten sie Tag für Tag
wahre Feste, insonderheit in dem einen Lager, wo den Fran-
zosen ein ganzes Gasthaus überlassen worden war, bei Spiel
und Tanz und Gesang. Man glaubte nicht, daß sie in Ge-
fangenschaft lebten, nein, man mußte annehmen, sie feierten
ihr Siegesfest im voraus, diese leichtlebigen Gallier.
Aber nach und nach kehrte Ruhbe und Ernst auch in den
Verkaufsstellen ein, und zwar in dem Maße, in dem die
Gelder abnahmen, und die Waren, namentlich die käuflichen
Nahrungsmittel, knapper auf den Markt kamen. Die un-
erträgliche Länge der Haft trug das Ihre dazu bei. Ja,
es kamen Monate, wo tiefer Ernst über der ganzen Ge-
fangenenstadt lag, weil die Verpflegung nicht nur den ver-
antwortlichen Lagerstellen, sondern auch den Gefangenen
größte Sorge einflößte. Auch sie sind überstanden worden
wie die bittersten Jeiten der Ernährung unseres Volkes
und seiner Gefangenen.
Was wir auf dem Gebiete der Verpflegung unserer Feinde
in reichlich 4 ½ Jahren geleistet haben, das kann die allem
Kriegswesen abholde, von Umsturzwogen durchtobte Gegen-
wart nicht beurteilen, das wird erst in etwa hundert Jahren
die Nachwelt aus den Urkunden richtig einschätzen. Ver-
hungert ist in Deutschland, in Sachsen, kein Gefangener,
obwohl Hunderttausende unserer Volksgenossen am Hunger-
tuche nagten.
3. Die Bekleidung
Die Bekleidung der Kriegsgefangenen bereitete vorerst
der Heeresverwaltung so gut wie keine Sorge. Denn diese
trafen durchweg gut ausgestattet in den sächsischen Lagern
ein. Die meisten unter ihnen trugen ganz neue Kleidungs-
stücke und gutes Schuhwerk. Das galt ganz besonders von
den Russen, die für französisches Geld begehrenswerte
Wäsche, Hosen, Röcke und Stiefel erhalten hatten. Zudem
war es Sommer, glühendheißer Sommer, dem ein warmer
Herbst folgte, so daß auch eine minderwertige Bekleidung
erträglich erschien. Für den Winter auch brauchten die Lager-
insassen nicht zu bangen, weil sie alle mit guten Mänteln
versehen in die Gefangenschaft kamen.
Indes mit der zeit nützten sich
auch die besten Kleidungs= und
Wäschestücke ab, zumal Tausende
ihrer Träger fleißig im Lager oder
in seiner Umgebung arbeiteten. An-
dere verkauften, um Geld für Nah-
rungomittel zu beschaffen, die ent-
behrlichsten Stücke. Darin taten sich
geradezu die Russen hervor. Für
einen lächerlich niedrigen Preis ver-
äußerten sie z. B. ihre kostbaren
bohen Juchtenstiefel an Fuhrleute, die
ins Lager kamen, oder verbotener-
weise ganz heimlich an deutsche Wehr-
leute. Damit verfolgten viele zu-
gleich den Zweck, von der Arbeits-
pflicht sich zu befreien, denn ohne
Fußbekleidung konnten sie doch nach
ihrer Meinung nicht zu Dienstlei-
stungen herangezogen werden.
Wenn auch viele der Gefangenen
ihren Kleidungs= und Wäschebestand
durch Sendungen aus der Heimat ergänzten, so bildete
sich doch ganz allmählich die Notwendigkeit für die
Heeresverwaltung heraus, auf Ersatz der abgetragenen
Bekleidung zu sinnen. Dieser sollte ursprünglich in erster
Linie aus Beutebeständen erfolgen. Da sie aber infolge der
ungeheuren Jahl der zu versorgenden Gefangenen nicht
ausreichten, machte sich bald die Einführung eines eigen-
artigen einfachen Gefangenenanzuges notwendig. Als seine
wesentlichen Stlcke galten nach einem Merkblatte, das vom
preußischen Kriegöministerium herausgegeben wurde, etwa
folgende: eine Schirmmütze, eine Halsbinde, eine schwarze
Jacke und Hose, ein Mantel und zwei Paar Schuhe;
ferner zwei Hemden, zwei Paar Strümpfe, zwei Unterhosen
und nach Bedarf ein Paar Tuchhandschuhe, sowie eine
braune Zeltbahn als Regenschutz. Als Abzeichen jedes Ge-
fangenen dienten am linken Oberarm des Mantels oder des
Nockes eine 10 Jentimeter breite Binde, an der Hosen-
naht § Zentimeter lange Streifen und an der Mütze Besatz-
streifen und Vorstöße aus braunem Zeltbahnstoffe. Für
die außerhalb der Lager arbeitenden Gefangenen durfte in
dringenden Fällen besondere Berufokleidung beschafft
werden. Von dieser Erlaubnis ist namentlich in den großen
Fabrikbetrieben reichlich Gebrauch gemacht worden.
Während diese Arbeitsanzüge anfangs von den Arbeit-
gebern im freien Handel beschafft wurden, mußte die Heeres-
verwaltung in der Beschaffung der eigentlichen Gefangenen-
kleidung nach Aufzehrung der Beutevorräte auf die Be-
stände der Ersatztruppenteile zurückgreifen. Das konnte sie
aber auch nur bis zu einer sehr naheliegenden Grenze,
denn der Bedarf des eigenen Heeres war schon von vorn-
herein sehr groß und wuchs täglich. Die Lager halfen sich