376
geren Formen des Kirchenstils oder in freier der welt-
lichen Musik angenäherter Weise erklingen. Es war ein
Verdienst des Leipziger Universitätskirchenchors unter Lei-
tung von Prof. H. Hofmann, der schon vordem regelmäßig
Konzerte für neueste deutsche Kirchenmusik veranstaltete,
solche Kompositionen sächslcher Tonsetzer zu Gehör zu
bringen (von A. Heuß, S. Karg-Elert, C. Schönherr,
5 Hiller, H. Kögler in geipzig, P. Gerbardt in Zwickau,
Böhme in Reichenbach, H. Kößschbe in Dresden-Strehlen,
G. Göhler jetzt in Lübeck).
Weit ausgiebiger als durch Darbietung neugeschaffe-
ner Werke ward das musikalische Bedürfnis der Kriegs-
zeit aus den schon vorhandenen Schätzen gedeckt. Sehr
bald nach Kriegsausbruch trat die Musikpflege in die Zeit
der Wohltätigkeitskonzerte ein. Es war eine wirkliche Hoch-
flut: allein für Dresden wird berichtet, daß die Zahl der
Lazarettkonzerte in die Hunderte ging; doch wurden nuch
Konzerte zugunsten notleidender Künstler gegeben. Es mag
Geh. Hofrat Professor A. Nikisch,
Dirigent des Leipziger Gewandhausorchesters
nicht alles Höhenkunst gewesen sein, was geboten wurde;
aber war es nicht eine überaus bezeichnende und erfreuliche
Tatsache sächsischen Geisteslebens im Kriege, daß in dieser
schweren Zeit so viel Erhebung, Trost und Freude durch gute
Musik von berufsmäßigen Künstlern wie von zahlreichen
fähigen Kräften aus der Bevölkerung in Stadt und Land
geboten wurde, in Passionsstimmung und Osterjubel, in
Totenklage und doch wieder durchbrechender Maienlust? Auch
an musikalischen Entdeckungen fehlte es nicht; so wurden
erst im Kriege die Tonschöpfungen des in Dresden hei-
mischen P. Büttner bekannt. Manche Einschränkung im
Musikwesen war unausbleiblich. In Leipzig löste sich
das Winderstein-Orchester auf; in den „Volkstümlichen
Sinfoniekonzerten“ in der großen Alberthalle bot nun
das „Schachtebeck-Quartett“ der Menge andächtig Hö-
render musikalischen Genuß. In Dresden hingegen ver-
mochte 19185 Eug. Lindner das Philharmonische Orchester
neu zu gründen; in der Pflege der Kammermusik hielt das
Striegler-Quartett durch. Das Chorwesen litt in Dresden
trotz edlen Eifers mehr als anderwärts; in Leipzig führten
der Bachverein unter K. Straube, der nach G. Schrecks
Rücktritt zum Thomaskantor ernannt wurde, der Riedel-
verein, dessen Dirigent während der Kriegszeit, Professor
Fr. Mayerhoff, zu Proben und Übungen von Chemnitz her-
überkam, auch die Singakademie unter G. Wohlgemuth
die Konzerttätigkeit wenig eingeschränkt weiter. Ein Unter-
schied im Musikbetrieb der beiden größten Städte des Lan-
des war auch der, daß in Dresden im altangesehenen Ton-
künstlerverein und bei einem „ersten modernen Musik-
feste“ schon Werke der allerjüngsten, ganz neue Ausdrucks-
möglichkeiten suchenden Musik (von Arn. Schönberg u. a.)
aufgeführt wurden, während sie in Leipzig einem größeren
PHörerkreis zunächst noch unbekannt blieb, wie überhaupt
hier die breitere Offentlichkeit von der Bewegung des „Ex-
pressionismus“ erst nach Kriegsausgang, sogleich in mehr
abgewogener wissenschaftlicher Darstellung durch eine Vor-
tragsreihe im Schillerverein (Frühjahr 1010) erfuhr.
Ein von Leipzig ausgehendes künstlerisches Ereignis von
allgemeinster Bedeutung war die von dem Gewandhaus-
Orchester unter seinem vielgefeierten Dirigenten Arthur
Nikisch im November 1916 unternommene Konzertreise
nach der Schweiz. Während wir Deutschen vor der ganzen
Welt als Barbaren verklagt und verhöhnt wurden, ward
hier eine Kulturtat ersten Ranges vollbracht: Darbietung
herrlichster deutscher Musik (Beethoven, N. Wagner,
Brahms) in einer an Schönheit und Vollendung nicht über-
bietbaren Wiedergabe vor einer aus verschiedensten Völkern
zusammengesetzten Hörerschaft, die vor solcher Offen-
barung deutschen Geistes bewundernd das Trennende der
Weltkriegsleidenschaften vergaß. Als Dank für die freund-
liche Aufnahme in der deutschen Schweiz wurde zu Leipzig
im Herbst lols ein Schweizerisches Musikfest veranstal-
tet. Nikisch führte sodann noch ähnliche Konzertreisen ins
Ausland durch; nach der Schweiz ward später auch der
Leipziger Bachverein eingeladen und bot mit dem deutschen
Nequiem von Brahms den Hörern eine Weihestunde edel-
ster Art. Mit solchen Leistungen hat die Musikpflege Sach-
sens eine wahre Kulturmission erfüllt.
Bedrohlicher als für die Kunst des geschriebenen und
gedruckten Worts sowie die Konzertmusik konnte die Kriegs-
zeit leicht für die auf größere technische Mittel angewiesene
Kunstpflege werden. In der Tat haben die Bühnen,
Schauspiel wie Oper, eine bewegte Geschichte während der
Kriegsjahre erlebt, zumal da an einigen der bedeutenden
ein Wechsel in der Leitung eintrat. Indes als die unmittel-
barste Gefahr für das Theaterwesen nach dem Aus-
bruch des Krieges vorüber war, gewöhnte sich das Publikum
sehr bald wieder an den Besuch der abendlichen Vorstellun-
gen; ja es siellte sich, da im Kriege viel Geld unter die
Leute kam, sonst aber weniger Gelegenheit zu geistiger Er-
holung mehr oder minder wertooller Art sich bot, ein gewal-
tiger Andrang zu den Aufführungen verschiedensten Ranges
ein, so daß die Theaterkassen einen Zustand erfreuender Fülle
aufwiesen. Erst gegen Ausgang des Krieges, als Kohlen-
not und Rohstoffmangel immer mehr Einschränkungen nötig
machten, als infolge der Einberufungen ins Heer oder zum
vaterländischen Hilfsdienst die Zahl der Mitwirkenden im-
mer kleiner ward, hatte der Theaterbetrieb empfindlich zu
leiden.
In einer Zeit aufs stärkste bewegten Lebens und allgemein
erregter Leidenschaft schien die Erwartung nicht unberech-
tigt, daß sich dramatische Gestaltungskraft des außergewöhn-
lichen Stoffs bemächtigen werde, um ihn in Schöpfungen
eines wirklichen Volksdramas zu bemeistern. Indes das
große nationale Drama von bleibendem künstlerischen Wert
als höchste Gestaltung des seelischen Inhalts der Welt-
kriegsepoche ward nicht geschaffen, weder in Sachsen, noch
sonst in Deutschland. An Versuchen, das Erleben der Kriegs-
zeit auf der Bühne darzustellen, hat es zwar nicht ge-
fehlt; auch in Sachsen wurde manches zur Aufführung