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und Handelsbetriebe, die sich in plötzlicher Schließung des
Betriebes, Entlassung von Arbeitern und Angestellten oder
sonstigen überstürzten Maßnahmen äußerte und zur Arbeits-
losigkeit vieler Angestellter und Arbeiter führte, die nicht
sofort zum Kriegsdienst eingezogen wurden.
Hinsichtlich dieser letzteren trat allmählich auch eine große
Rechtsunsicherheit darüber ein, ob die Einziehung zum
Kriegsdienst das Anstellungsverhältnis ohne weiteres
auflöse und daher Fortzahlung des Gehaltes nicht erforder-
lich sei. Vielfach war die Meinung verbreitet, es handele
sich auf seiten der Angestellten um ein „unverschuldetes Un-
glück“, so daß die Gehaltszahlung noch auf 6 Wochen er-
folgen müsse und der Angestellte auch den Anspruch auf
seine Stelle behalte. Die Frage hat sich dann meist im Wege
gütlicher Vereinbarung lösen lassen, indem in den
meisten Fällen die Zahlung erfolgte und von seiten der
führenden Banken und Industrieunternehmungen auch für
die zurückbleibenden Angehörigen der Arbeiter und Ange-
siellten in weitestgehender Weise durch Unterstützung gesorgt
wurde, soweit sie finanziell irgendwie dazu in der Lage
waren. An die nicht zum Heeresdienst einrückenden Ange-
stellten und Arbeiter wurde das Ersuchen gerichtet, auf einen
Teil ihrer Bezüge zu verzichten, um daraus einen Fonds
für die zurückbleibenden Angehörigen der eingezogenen Ar-
beiter und Angestellten zu bilden. Für die im Betriebe ver-
bleibenden Arbeiter und Angestellten bestand natürlich das
gesetzliche Kündigungsverhältnis weiter, und es wurde im
Falle der Entlassung scharf geprüft, ob der Unternehmer
durch den Krieg ohne weiteres zur Einstellung seines Be-
triebes gezwungen war. Vielfach wurde, wie erwähnt, der
Betrieb im ersten Schrecken ganz eingestellt; in den meisten
Fällen begnügte man sich aber mit einer Verkürzung der
Arbeitszeit und einer Herabsetzung der Löhne nach vor-
heriger Verständigung mit den Arbeitern.
Trotzdem trat natürlich in dieser ersten Periode eine
ausßgedehnte Arbeitslosigkeit ein. Auf dem säch-
sischen Arbeitsmarkt stieg die Zahl der Arbeitsuchenden auf
loo offene Stellen von 150,46 im Juli 1914 auf 510, 88
im August 1914. Die Arbeitslosigkeit war in den verschie-
denen Bezirken Sachsens allerdings verschieden groß. Es
kamen auf 100 offene Stellen Arbeitsuchende in
Juli 1914 August 1014
Chemnitz 118,64 336,04
Dresden 202,41 620,48
Leipzig 133,73 402,52
An dieser großen Arbeitslosigkeit waren insbesondere auch
die Frauen beteiligt, deren gewerbliche Beschäftigung in
Sachsen von jeher sehr umfangreich war.
Die Frage, wie der Arbeitslosigkeit abzuhelfen wäre, be-
schäftigte damals die Offentlichkeit auf das Lebhafteste, denn
man befürchtete, daß dieser Zustand während des ganzen
Krieges anhalten würde. Man richtete an die Verbraucher
den dringenden Appell, mit Bedarfsdeckungen nicht zu-
rückzuhalten; jeder, dessen Kaufkraft durch den Krieg nicht
geschwächt wäre, sollte mit Käufen und Bestellungen nicht
zurückhalten. An die Regierungsstellen, Gemeinden, Be-
hörden, staatliche Institute ging die Aufforderung, sofort
Notstandsarbeiten einzurichten, begonnene Bauten fort-
zuführen, geplante zu beginnen. Ebenso wurde eine Ver-
schiebung der Arbeitslosen innerhalb der einzelnen Industrie-
zweige veranlaßt, namentlich in diejenigen, welche Notstands-
arbeiten zu erwarten hatten und in diejenigen, welche für
das Heer sofort arbeiten bonnten.
Es war allerdings in Sachsen nur ein verhältnismäßig
kleiner Teil der Industrie, der schon in dieser ersten Periode
des Krieges einen gewaltigen Aufschwung in der Beschäf-
tigung nahm, die eigentliche Rüstungsindustrie. Diese
Betriebe, welche für die Ausstattung des Heeres schon in
Friedenszeiten gearbeitet und meistens durch Vertrag mit den
Militärbehörden Lieferungsverpflichtungen, sogenannte Mo-
bilmachungsverträge übernommen und sich verpflichtet
batten, für den Fall des Kriegsausbruches in bedeutendem
Umfange bestimmte Artikel zu liefern, stellten in Sachsen
nur eine verhältnismäßig kleine Zahl dar. Sachsens In-
dustrie hatte im Frieden nie Kanonen und Granaten her-
gestellt oder Panzerplatten, U-Boote, schtvere Munitions=
wagen usw. geliefert. Dagegen bestanden Fabriken für die
Ausrüstung der Mannschaften und die Ausstattung der
Regimenter mit den verschiedensten Artikeln.
Auch diese Betriebe waren übrigens in den ersten Wochen
des Krieges durch die allgemeine Lähmung des Verkehrs
gehindert, sofort ihre ganze Wirksamkeit zu entfalten. Aber
sie hatten wenigstens Aufträge, während die bei weitem
überwiegende Zahl der sächsischen Industriebetriebe in dieser
ersten Periode plötzlich vor ganzen Stößen annullierter Auf-
träge und vor dem Verlust ihrer Auslandsmärkte in den
feindlichen und überseeischen Ländern standen. Die all-
gemeine Unsicherheit in dieser ersten geit nach
Kriegsausbruch war um so größer, als niemand die wei-
tere Entwicklung einigermaßen vorhersagen konnte. Zwar
war das Vertrauen in die deutsche Wehrmacht unbegrenzt
und die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende allgemein.
Gerade sie aber hat dazu beigetragen, daß die Dispositionen
für Umstellung der Betriebe auf Heereslieferungen nicht
so schnell getroffen wurden, wie das vielleicht erfolgt wäre,
wenn man die lange Dauer des Krieges vorausgesehen
bätte. Das ungemein Plötzliche des Kriegsausbruches, auf
den in Deutschland niemand vorbereitet war, machte die
Verwirrung besonders groß. Eine Fülle von nicht erfüllten
Ansprüchen, nichtbegebenen Leistungen, neuerstandenen Ver-
pflichtungen, die Unsicherheit der Gegenwart und Zukunft,
machten selbst bei sonst geordneten Verhältnissen einen Über-
blick über die zu treffenden Dispositionen unmöglich und ver-
mehrten das Durcheinander. Für die in Sachsen bedeutende
Erportindustrie eröffneten sich wenig tröstliche Per-
spektiven. Ungezählte Ausfuhrgüter, die gerade unterwegs
waren, blieben liegen, es wurde ihre Annahme z. B. für
Schiffsladungen verweigert, und sie kamen später zurück.
Und was an Exportaufträgen in diesen Betrieben vor-
handen und in der Ausführung begriffen war, wurde selbst-
verständlich sofort eingestellt, da niemand klar sehen konnte,
wie es mit der Abnahme der gestellten Anträge selbst bei
neutralen Bestellern einmal werden würde. Der sofort ein-
setzende Wirtschaftskrieg Englands und seiner Bun-
desgenossen zerriß alle Fäden, die ung mit dem Auslande in
so großer Zahl verbanden, sehr rasch, hemmte die unter-
wegs befindlichen Zufuhren, trieb die auf den Meeren fahren-
den deutschen Schiffe in den nächst erreichbaren neutralen
Hafen und verschloß in seiner raffinierten Durchbildung
und seinem unerhörten völkerrechtswidrigen Druck auf die
Neutralen nach und nach sämtliche Türen, durch welche
Deutschlands und Sachsens Wirtschaft bisher mit dem Welt-
markt in Verbindung gestanden hatte.
Bezeichnend für den Pessimismus und die Lähmung des
geschäftlichen Unternehmungsgeistes war auch die Stellung-
nahme zur Leipziger Herbstmesse, deren Eröffnungs-
termin bald nach Kriegsausbruch (Ende August 1914) lag.
Angesichts der Tatsache, daß Deutschland nicht wie 1870
einem Gegner, sondern einem Ring von solchen gegen-
lberstand und mit Rücksicht auf die schwierigen Transport-
verhältnisse, die Paßschwierigkeiten, die notwendige um-
ständliche Kontrolle gegenüber Ausländern wegen der Spio-
nageversuche, glaubt man in industriellen und Handelokreisen
nicht, daß ein nennenswerter Besuch der Messe stattfinden
wlirde. Man schlug daher vor, sie ausfallen zu lassen. Aller-
dings wurde diesem Antrage nicht stattgegeben, der Nat
der Stadt Leipzig entschied sich dafür, die Messe statt-
finden zu lassen, mit der Begründung, daß es auf wirt-