Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

Interpellation der sozialdemokratischen 
Partei. 
1. Welche Stellung hat die sächsische Regierung im Bun- 
desrate zu den Fragen der demokratischen Neugestaltung 
und der Schaffung einer parlamentarischen Regierung im 
Reiche eingenommen? 
2. Was gedenkt sie zu tun, um dem Programm der neuen 
Neichsregierung entsprechend auch für die Landtagswahlen 
in Sachsen das allgemeine, gleiche Wahlrecht einzuführen? 
3. Wie stellt sie sich zur Durchführung des parlamenta- 
rischen Regierungssystems in Sachsen? 
4. Ist sie gewillt, zur Reform der inneren Vertvaltung 
auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen Wahlrechts 
zu den Gemeinde-, Bezirks= und Kreisvertretungen dem 
Landtage schleunigst eine Vorlage zu unterbreiten? 
Antrag der sozialdemokratischen Partei. 
Die Kammer wolle beschließen: 
die Regierung zu ersuchen, die Amnestierung aller wegen 
politischer Handlungen Verurteilten restlos durchzuführen 
und für angemessene Entschädigung aller von Verurteilungen 
oder von sonstigen Maßregeln der militärischen oder zivilen 
Behörden Betroffenen Sorge zu tragen. 
Antrag der sozialdemokratischen Partei. 
Die Kammer wolle beschließen: 
die Regierung zu ersuchen, 
1. dem Landtage mit größter Beschleunigung eine Vor- 
lage zu unterbreiten, durch die namentlich für den Über- 
gang vom Kriegs= zum Friedenszustande 
a) die Arbeitsvermittlung allgemein durchgeführt, 
b) die staatliche Unterstützung aller Eristenzlosen bio 
zur Erlangung eines ausreichenden Erwerbs ge- 
sichert wird und 
P) die erforderlichen Geldmittel bis auf weiteres 
durch den Staat bereitgestellt werden; 
2. im Bundesrate für eine durchgreifende Regelung des 
Unterstützungswerbs und für die Erstattung der einzel- 
staatlichen Aufwendungen durch das Reich einzutreten; 
3. ein Landesarbeitsamt zu errichten und diesem alle Ar- 
beiterfragen zur Bearbeitung und Erledigung zu über- 
weisen. 
Antrag der sozialdemokratischen Partei. 
Die Kammer wolle beschließen: 
die Regierung zu ersuchen, dafür zu sorgen, daß 
I. staatliche Arbeiten sofort in Angriff genommen, 
2. staatliche Arbeits= und Lieferungsaufträge schleunigst 
vergeben und 
3. die in den Händen der Heeresverwaltung befindlichen 
und alle sonst vorhandenen Rohstoffe für die landwirt- 
schaftliche, industrielle und gewerbliche Produktion so- 
wie die verfügbaren Nahrungsmittel und Bekleidungs- 
vorräte unverzüglich zur Verwendung freigegeben werden. 
Antrag der sozialdemokratischen Partei. 
Die Kammer wolle beschließen: 
die Regierung zu ersuchen, im Bundesrate dafür einzutreten, 
daß zur Abtragung der Kriegslasten und zur Herstellung 
eines gerechten Steuersystems das Reich in vollkommener 
Abkehr von seiner bisherigen Steuerpolitik die Besteuerung 
von Einkommen und Vermögen zur Hauptgquelle seiner 
Steuereinkünfte macht, die Erbschaftssteuer weiter ausbaut, 
vor allem aber auch eine gründliche Erfassung der Kriegs- 
germ durchführt und sie durch schleunige Maßnahmen 
ichert. 
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Interpellation der sozialdemokratischen 
Partei. 
Was hat die Regierung getan, um die Versorgung der 
Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Schub- 
werk, Heizstoffen und Beleuchtungsmitteln zu sichern? 
Interpellation der sozialdemokratischen 
Partei. 
Welche Maßnahmen hat die Regierung ergriffen, um der 
berrschenden Wohnungsnot und ihrer zu erwartenden Stei- 
gerung rechtzeitig zu begegnen? 
Hat sie im besonderen für die Beschleunigung der not- 
wendigen Vorkehrungen um Sinne der Forderungen des An- 
trags Castan und Genossen (Berichte usw. der II. Kammer, 
Nr. 158) Sorge getragen? 
Was gedenkt die Regierung zu tun, um die Wahrung 
der Rechte und Interessen der minderbemittelten Bevöl- 
kerung im Mietverhältnis sicherzustellen? 
Auch die drei Abgeordneten der unabhängig-sozialdemo- 
kratischen Partei brachten einen Antrag in Hinsicht auf die 
Amnestierung ein (Berichte usw. der II. Kammer, Nr. 
321, vergleiche Nr. 315): 
Antrag der unabhängig-sozialdemokratischen 
Partei. 
Die Kammer wolle beschließen: 
die Regierung zu ersuchen, 
1. umgehend einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem 
alle Personen, die wegen politischer Vergeben oder Ver- 
brechen, wegen politischen Landes= oder Kriegsverrate, 
Streikvergehen, Aufreizung zum Klassenhaß verurteilt 
oder in Untersuchung genommen wurden, amnestiert 
werden. Die Strafen mit allen Nebenstrafen sind auf- 
zuheben, die schwebenden Verfahren einzustellen; 
2. soweit die Kompetenz der Reichsregierung in Frage 
kommt, bei dieser in diesem Sinne zu wirken und da- 
für einzutreten, daß die wegen politischer Gesinnung 
oder Betätigung, namentlich wegen Streikbeteiligung 
zum Heer eingezogenen Personen entlassen und alle 
politischen Vermerke in den militärischen und polizei- 
lichen Akten gelöscht werden. 
Mit recht unliebsamen, aber in der Natur der Dinge 
liegenden Angelegenheiten begannen die Sitzungen der zwei- 
ten Kammer. Oie konservative Fraktion bezichtigte den 
Präsidenten der Parteilichkeit, da sie nicht zu den Beratun- 
gen über die Neuorientierung hinzugezogen worden sei (Mit- 
teilungen der II. Kammer, Seite 2151). Sbenso be- 
schwerten sich die unabhänglgen, daß ihr Antrag auf Ab- 
stellung des Belagerungszustandes bisher nicht auf die 
Tagesordnung gesetzt sei (ebenda, Seite 2152). Der 1. No- 
vember war der denkwürdige Tag, an dem die beiden Kam- 
mern von der geplanten Regierungsumbildung Kenntnio 
nahmen. Verfassungsmäßig mußte erst das Dekret über 
die geplanten Anderungen der Verfassung beraten und an- 
genommen werden, ehe die neue Regierung sich vorstellen 
bonnte. Die erste Kammer nahm die Verfassungsänderung 
einstimmig und ohne Debatte an (Mitteilungen der I. 
Kammer, Seite 579). Etwas anderes gestalteten sich die Ver- 
hältnisse in der zweiten Kammer. Dort nahmen die Par- 
teien kurz Stellung dazu. Namens der nationalliberalen, 
fortschrittlichen und sozialdemokratischen Fraktionen stellte 
Abgeordneter Brodauf den Antrag, die Verfassungonovelle 
sofort in Schlußberatung zu nehmen, was gegen die drei 
Stimmen der Unabhängigen angenommen wurde. Für die 
sozialdemokratische Partei erklärte der Abgeordnete Sinder- 
mann den Willen zur Mitarbeit unter den neuen Verhält- 
nissen. Auch die bonservative Fraktion betonte das Gleiche 
und willigte in die Forderungen des allgemeinen Wahl- 
rechts, der Reform der ersten Kammer und der Kontrolle
	        
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