Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

434 
Die politische Umwälzung darf die Ernährung der Be- 
völkerung nicht stören. 
Es muß die erste Pflicht aller in Stadt und Land bleiben, 
die Produktion von Nahrungomitteln und ihre Zufuhr in 
die Städte nicht zu hindern, sondern zu fördern. 
Nahrungemittelnot bedeutet Plünderung und Naub mit 
Elend für alle. Die Armsten würden am schwersten leiden, 
die Industriearbeiter am bittersten getroffen werden. 
Wer sich an Nahrungsmitteln oder sonstigen Bedarfs- 
gegenständen oder an den für ihre Verteilung benötigten 
Verkehrsmitteln vergreift, versündigt sich aufs schwerste an 
der Gesamtheit. 6 
Mitbürger! Ich bitte Euch alle dringend, verlaßt die 
Strassen, sorgt für Ruhe und Ordnung! 
Berlin, den 9. November 1918. 
Der Reichskanzler. 
Ebert. 
An alle Behörden und Beamten erging gleichzeitig folgen- 
der Aufruf des Kanzlers: 
Die neue Regierung hat die Führung der Geschäfte über- 
nommen, um das deutsche Volk vor Bürgerkrieg und 
Hungersnot zu bewahren und seine berechtigten Forderungen 
auf Selbstbestimmung durchzusetzen. Diese Aufgabe kann 
sie nur erfüllen, wenn alle Behörden und Beamten in Stadt 
und Land ihr wilfreiche Hand leisten. Ich weiß, daß es 
vielen schwer werden wird, mit den neuen Männern zu ar- 
beiten, die das Reich zu leiten unternommen haben, aber 
ich appelliere an ihre Liebe zu unserm Volke. Ein Versagen 
der Organisation in dieser schweren Stunde würde Deutsch- 
land der Anarchie und dem schrecklichsten Elend ausliefern. 
Helft also mit mir dem Vaterlande durch furchtlose und 
unverdrossene Weiterarbeit, ein jeder auf seinem Posten, 
bis die Stunde der Ablösung gekommen ist. 
Berlin, den 9. November 1918. 
Der Reichskbanzler. 
Ebert. 
In vielen Sitzungen und Besprechungen wurde schließlich 
das neue Reichskabinett als Rat der Volksbeauf= 
tragten mit Ebert, Scheidemann, Landsberg, 
Haase, Dittmann und Barth konstituiert. Diese neue 
Regierung wandte sich dann am 12. November in einem 
Aufruf an das deutsche Volk (Deutscher Geschichts- 
kalender: Die deutsche Revolution, Seite 30): 
An das deutsche Volk! 
Die aus der Revolution hervorgegangene Regierung, deren 
politische Leitung rein sozialistisch ist, setzt sich die Aufgabe, 
das sozialistische Programm zu verwirklichen. Sie verkün- 
det schon jetzt mit Gesetzeskraft folgendes: 
1. Der Belagerungszustand wird aufgehoben. 
2. Das Vereins= und Versammlungsrecht unterliegt keiner 
Beschränkung, auch nicht für Beamte und Staatsarbeiter. 
3. Eine Zenfur findet nicht statt. Die Theaterzensur wird 
aufgehoben. 
4. Meinungsäußerungen in Wort und Schrift sind frei. 
FJ. Die Freiheit der Religionsausübung wird gewährleistet. 
Niemand darf zu einer religiösen Handlung gezwungen 
werden. 6 
6. Für alle politischen Straftaten wird Amnestie gewährt. 
Die wegen solcher Straftaten anhängigen Verfahren 
werden niedergeschlagen. 
7. Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst wird 
aufgehoben, mit Ausnahme der sich auf die Schlichtung 
von Streitigkeiten beziehenden Bestimmungen. 
8. Die Gesindeordnung wird außer Kraft gesetzt, ebenso 
das Auonahmegesetz gegen die Landarbeiter. 
9. Die bei Beginn des Krieges aufgehobenen Arbeiter- 
schutzbestimmungen werden hiermit wieder in Kraft 
gesetzt. 
Weitere sozialpolitische Verordnungen werden binnen kurzem 
veröffentlicht werden. Spätestens am 1. Januar loldg wird 
der achtstündige Maximalarbeitstag in Kraft treten. Die 
Regierung wird alles tun, um für ausreichende Arbeits- 
gelegenheit zu sorgen. Eine Verordnung über die Unter- 
stützung der Erwerbslosen ist fertiggestellt. Sie verteilt die 
Lasten auf Reich, Staat und Gemeinde. — Auf dem Ge- 
biete der Krankenversicherung wird die Versicherungspflicht 
über die bisherige Grenze von 2500 Mark ausgedehnt wer- 
den. — Die Wohnungsnot wird durch Bereitstellung von 
Wohnungen bekämpft werden. — Auf die Sicherung einer 
geregelten Volksernährung wird hingearbeitet werden. Die 
Regierung wird die geordnete Produktion aufrechterhalten, 
das Eigentum gegen Eingriffe Privater sowie die Freiheit 
und Sicherheit der Person schützen. — Alle Wahlen zu öffent- 
lichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, ge- 
heimen, direkten und allgemeinen Wahlrecht auf Grund des 
Proportionalwahlsystems für alle mindestens 20 Jahre 
alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen. 
Auch für die konstituierende Versammlung, über die nähere 
Bestimmungen noch erfolgen werden, gilt dieses Wahlrecht. 
Berlin, 12. November 1918. 
Ebert, Haase, Scheidemann, Landsberg, 
Dittmann, Barth. 
Die schnelle Entwicklung im Reich beschleunigte auch das 
Tempo der Bewegung in Sachsen. Der Morgen des 9. No- 
vember brachte mit der Bildung eines Exekutiv= 
ausschusses in Dresden von seiten der unabhängigen 
Sozialdemokratie eine Spaltung. Der Erekutivausschuß 
stellte folgende Forderungen auf: Sofortige Aufhebung des 
Belagerungszustands, vollständige Pressefreiheit, Abschaf- 
fung der Monarchie und der ersten Kammer, Unterstellung 
der militärischen unter die Zivilgewalt, sofortige Entlassung 
aller Gefangenen, sofortige Einleitung der Friedensverhand- 
lungen. 
Zwischen dem provisorischen Arbeiter= und Soldatenrat 
mehrheitssozialistischer Richtung und dem revolutionären 
Arbeiter= und Soldatenrat unabhängiger Richtung bzw. dessen 
Erekutivausschuß, kam es zur Verhandlung, als deren End- 
ergebnis eine Einigung erzielt wurde. Zu gemeinsamer Ar- 
beit fanden sich Angehörige beider Parteien zusammen und 
konstituierten einen Vereinigten revolutionären Ar- 
beiter= und Soldatenrat. 
Bei der am 10. November im Zirkus Sarrasani statt- 
gefundenen Versammlung wurde von Fleißner mitgeteilt, 
daß die Geschlossenheit der revolutionären Be- 
wegung gesichert sei. In dieser Versammlung wurde die 
Republik Sachsen ausgerufen (Staatszeitung 263). Im 
Anschluß an die Versammlung im Jirkus begaben sich die 
beiden Vorsitzenden des Vereinigten revolutionären Arbeiter- 
und Soldatenrats Schwarz und Rühle in das Ministerium 
des Innern, wo eine Unterredung mit dem Minister 
des Innern Dr. Koch stattfand. Sie erklärten ihm, daß 
die bisherigen Minister ihres Amtes enthoben seien, und 
baten Dr. Koch doch in Hinsicht auf die wichtigen Aufgaben 
der Kohlen-, Nahrungsmittelversorgung usw. im Amt zu 
bleiben. Dr. Koch erklärte sich wegen des einheitlichen po- 
litischen Auftrags an das Gesamtministerium mit seinen 
abtretenden Ministerkollegen solidarisch, fand sich aber be- 
reit, die Beamten aufzufordern, unter Aufsicht des Arbeiter- 
und Soldatenrats die Geschäfte in der bisherigen Weise 
weiterzuführen. Voraussetzung müßte aber dabei sein, daß 
die Beamten politisch nicht in eine Zwangslage gebracht 
würden (Staatszeitung 263). 
Am 12. November erließ dann Dr. Koch einen denk- 
würdigen Aufruf (Staatszeitung 264); 
In Dreoden hat sich ein Vereinigter revolutionärer Ar- 
beiter= und Soldatenrat gebildet. Er hat sich in den Besitz
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.