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vor allem die Kriegsgewinne heranzuziehen. Die Beseitigung
jedes auf Ausbeutung beruhenden Einkommens ist zu er-
streben, desgleichen die Vergesellschaftung der dazu geeig-
neten kapitalistischen Unternehmungen in Landwirtschaft,
Industrie, Handel und Verkehr.
Verwaltungsreformen grundsätzlicher Art bleiben vorbe-
halten. Für die Gemeinden ist volle Selbstverwaltung durch-
zuführen. Die bestehenden Gemeindevertretungen können
zunächst im Amte bleiben. Für die Erneuerung der Gemeinde-
vertretungen werden nähere Anweisungen demnächst erfolgen.
Für die bisher ungünstig besoldeten Beamten und Staats-
arbeiter wird sobald als möglich zum Ausgleich der be-
stehenden Teuerungsverhältnisse eine gründliche Reform der
Besoldungs= und Lohnverhältnisse erfolgen.
Zur ÜUberleitung aus dem Kriegs= zum Friedensstand und
zum neuen Aufbau des Wirtschaftslebens bedarf es des Auf-
gebots aller Kräfte. Vornehmlich haben die Organisationen
der Arbeiterklasse ihr Außerstes einzusetzen, um der Schwie-
rigkeiten Herr zu werden. Nur so kann das Gespenst des
Hungers gebannt und eine bessere Zukunft angebahnt wer-
den. Schwer ist die Not der Zeit. Jeder tue seine Pflicht!
Ist die gefahrvolle Ubergangszeit überstanden, dann wird
das deutsche Volk vermöge der unvergänglichen Kräfte, die
in ihm leben, in demokratisch-sozialistischer Entwicklung
sich zu neuer Blüte entfalten. Vorwärts! Aufwärts! —
Eine völlig veränderte Lage innerhalb einer Wochel! Neue
Grundsätze, neue Richtlinien! Neue gewaltige Arbeit sollte
geleistet werden. Nicht allenthalben stand man mit großer
Zuversicht zu den neuen Dingen, da immer ein großer
Teil der Bevölkerung mit diesen und jenen Dingen vor den
Kopf gestoßen wurde.
III. Die Zeit bis zum Austritt der Unabhängigen
aus der Regierung
(M tte Januar 1910)
Die Tätigkeit der Regierung ist in der Folge durch die
Kontrolle der Arbeiter= und Soldatenräte bzw. durch den
Landes-Arbeiter= und Soldatenrat stark beengt. Ein freies
Wollen der Zentralbehörde, des Gesamtministeriums, eri-
stiert kaum, und oft muß von Dresden aus sehr scharf gegen
das eigenmächtige Walten mancher örtlicher Arbeiter= und
Soldatenräte Einspruch erhoben werden.
Noch war man keineswegs seit der Bildung eines Volks-
beauftragtenkabinetts bedeutende Schritte vorwärts gegan-
gen. Es galt eine Reihe neuer Grundgesetze zu
schaffen. Vorerst mußte aber für den wichtigsten Arbeits-
kreis eines gemischt-sozialistischen Kabinetts ein neues
Ressort geschaffen werden. Man knüpfte an die durch die
Neuorientierung in Sachsen geschaffene Einrichtung eines
Arbeitsministeriums an und schuf aus den bisherigen Ab-
teilungen III (Handel und Gewerbe) und V. (Landwirt-
schaft und Landeslebensmittelamt) des Ministeriums des
Innern ein neues Arbeits= und Wirtschaftsmini-
sterium und übertrug es dem Volksbeauftragten Schwarz
(Gesetz= und Verordnungsblatt 1018, Seite 370 f.).
Die Regierung hatte nun ein vorwiegendes Interesse,
die Gedanken der Revolution in das platte
Land zu tragen, wo diese bisher sehr unpopulär waren.
Auf dem Wege der Agitation wäre der Erfolg zunächst nicht
durchschlagend gewesen, so versuchte man, auf gesetzlichem
Wege Einfluß zu bekommen. Das Gesamtministerium er-
lies darum am 23. November eine Bekanntmachung, die
die Neuwahlen für Stadtverordnetenkollegien und Gemeinde-
räte bis 31. Dezember zur Pflicht machte (Staatszeitung
274). Die Verfügung war so übereilt, daß am 28. No-
vember, also fünf Tage später, infolge zahlreicher Proteste
ihre Aufhebung verhängt und eine neue Bekanntmachung
erlassen wurde, die für die Entwicklung städtischen und
dörflichen Parlamentslebens sehr wichtig war (Gesetz= und
Verordnungsblatt 1919, Seite 4 f.):
Mehrfache Wünsche aus der Mitte der Gemeinden haben
das Gesamtministerium veranlaßt, die Bekanntmachung vom
23. November 1918 über die Wahlen zu den Gemeindever-
tretungen in einigen Punkten abzuändern. Sie wird des-
halb aufgehoben. An ihre Stelle tritt folgende Bekannt-
machung:
Für die Wahlen der Stadtverordneten und Gemeinde-
vertreter wird das allgemeine, gleiche, geheime und direkte
Stimmrecht aller Männer und Frauen eingeführt, die Deutsche
sind, das 20. Lebensjahr vollendet haben und am Tage des
Abschlusses der Wählerlisten im Gemeindebezirk ihren we-
sentlichen Wohnsitz haben.
Personen des Soldatenstandes sind stimmberechtigt.
Der Bezug von Armenunterstützung aus öffentlichen
Mitteln hat auf das Stimmrecht keinen Einfluß.
Die Wahlen finden nach dem Grundsatze der Verhältnis=
wahl mit gebundenen Listen statt.
Niemand hat in einer Gemeinde mehrfaches Stimm-
recht. Weder juristische noch physische Personen oder Per-
sonenvereine haben Anspruch auf Sondervertretung im Ge-
meinderate.
Wählbar sind alle Stimmberechtigten.
Die Zahl der zu Wählenden wird durch Ortsgesetz fest-
gesetzt.
Das Verfahren der Verhältniswahl regelt sich nach den
Bestimmungen in 96 10 bis 15 des Reichsgesetzes vom
24. August 1918 (Reichsgesetzblatt, Seite 1079). An Stelle
der Bestimmungen in # 7 bis 0 dieses Gesetzes tritt orts-
gesetzliche Regelung. Auch imn übrigen sind vorbehältlich spä-
terer gesetzlicher Regelung die für das Reichstagswahlrecht
geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit vor-
stehend nichts anderes bestimmt ist. Jedoch können Fristen
und Formen, die das Reichstagswahlrecht vorschreibt, durch
Ortsgesetz abweichend geregelt werden.
Wahlkommissar ist in Städten mit revidierter Städte-
ordnung ein Mitglied des Stadtrates, im übrigen der Bür-
germeister oder Gemeindevorstand.
Das Recht des Gewählten zur Ablehnung oder Nieder-
legung des Amtes richtet sich nach den bisherigen Vor-
schriften. Im übrigen werden die Bestimmungen der Ge-
meindeverordnungen über Zusammensetzung und Wahl der
Stadtverordneten und Gemeinderäte ausgehoben.
In besonders kleinen Landgemeinden, wo die Bildung
eines Gemeinderates undurchführbar erscheint, kann durch
Ortsgesetz bestimmt werden, daß die Gemeindevertreter in
Wegfall kommen. An die Stelle des Gemeinderates treten
dann alle stimmberechtigten Gemeindemitglieder.
Der Wahltag muß ein Sonntag sein. Die Wahlzeit um-
faßt die Tagesstunden von 9 bis 8 Uhr. Ihre Abkürzung
durch Ortsgesetz ist zulässig.
Die zur Ausführung dieser Bekanntmachung erforderlichen
ortsgesetzlichen Bestimmungen sind ohne Verzug zu erlassen.
Wo zurzeit die Stadtverordneten oder der Gemeinderat
oder der Stadtgemeinderat aufgelöst sind, ist in Städten
mit revidierter Städteordnung der Stadtrat, im übrigen der
Bürgermeister oder der Gemeindevorstand befugt, die er-
wähnten ortögesetzlichen Bestimmungen nach gutachtlichem
Gehör von Vertretern bestehender örtlicher Arbeiter= und
Soldatenräte zu erlassen.
In allen Gemeinden müssen die Neuwahlen spätestens
am 9. Februar lo#o stattfinden. Frühere Wahlen sind zu-
lässig.
Die Stadtverordneten und Gemeindevertreter, die sich
zurzeit im Amte befinden, haben dieses bis nach Durch-
führung der Neuwahlen fortzuführen.