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gekommen. Man begann mit dem Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungs-
gesetz und ging dann zu letzterem über. Das Referat hatte der sächsische Justiz-
minister Abeken. Dann folgte die Zivilprozeßb= und die Strafprozeßordnung.
Die Arbeit wurde am ersten Tage so weit gefördert, daß für den folgenden Tag.
nur noch ein verhältnismäßig kleiner Arbeitsstoff übrig blieb. Die Mitglieder des.
Bundesrats hatten eine so schnelle Erledigung dieser umfangreichen Vorlagen nicht
erwartet. Die Beratung — und dies trug hauptsächlich zur Beschleunigung bei —
lehnte sich nur an diejenigen Artikel an, zu welchen Anträge vorlagen.
Im einzelnen ist folgendes zu bemerken: Bei den Verhandlungen über die
Gerichtsorganisation wurde ohne weitere Debatte über die Frage abgestimmt, ob
das Reichsgericht, wie Preußen beantragt hatte, in zwei gesonderte Abteilungen
für Straf= und Zivilrecht zerfallen sollte. Die Majorität erklärte sich gegen
die Teilung; damit war das einheitliche Reichsgericht gerettet. 1) Ueber den
Sitz desselben wurde kein Beschluß gefaßt; die Bestimmung darüber wurde dem
Kaiser auf Vorschlag des Bundesrats anheimgestellt. Man glaubte allgemein,
daß die Entscheidung für Leipzig ausfallen werde. Ein Antrag Sachsens, dies
durch gesetzliche Bestimmung (also unter Mitwirkung des Reichstags) festzustellen,
wurde abgelehnt.
Dagegen wurde ein anderer preußischer Antrag angenommen, dessen Ein-
bringung auf einem Beschlusse der letzten Sitzung des preußischen Staats-
ministeriums beruhte, und der die Einführung von Polizei-Rügegerichten zum
Zwecke hatte, welche in allen Kontraventionsfällen, die mit einer Geldstrafe von
höchstens 60 Mark oder einer 14tägigen Gefängnisstrafe bedacht sind, zu er-
kennen haben sollten.:2) Die Wirksamkeit derselben sollte sich unmittelbar an
1) Zu der vom Bundesrat beschlossenen Ablehnung einer Teilung des höchsten Reichs-
gerichtshofs in zwei Teile sagte das nationalliberale Parteiorgan: „Der Gedanke war
von vornherein ein durchaus verfehlter. Die Errichtung zweier höchsten Gerichtshöfe, eines
für Kriminal= und eines andern für Zivilsachen, würde eine der unglücklichsten Zersplit-
terungen der höchsten Rechtspflege darstellen. Der Gerichtshof, welcher über die Einheit-
lichkeit der Rechtsgrundsätze zu wachen hat, kann sich nicht in zwei Teile teilen; denn
selbst Straf= und Zivilgericht sind nicht so absolut gesondert von einander, daß sie nicht
in den höchsten Ausgängen vielfach Berührungspunkte haben sollten. Dem Gedanken einer
Einsetzung zweier höchsten Gerichtshöfe würde gewiß von vornherein kein erhebliches Gewicht
beizulegen gewesen sein, wenn nicht gerade die preußische Regierung diesen Vorschlag gemacht
bhätte. Der Fall ist wohl äußerst selten, daß ein von Preußen eingebrachter Vorschlag von
der Mehrheit des Bundesrats abgelehnt wird, und wir wünschen nicht, daß dieser Fall
sich häufiger wiederholt. Wir sind jedoch dessen völlig zufrieden, daß, wenn einmal ein
so unpraktischer, schädlicher Vorschlag wie der auf Einsetzung zweier höchsten Gerichtshöfe
von Preußen ausgeht, ein solcher durch die Mehrheit des Bundesrats abgelehnt wird.
Uns liegt viel an dem Ansehen und der leitenden Stellung Preußens im Bundesrate,
mehr aber noch an der korrekten Wahrnehmung der höchsten Reichsinteressen.“
2) Die Motivirung dieses preußischen Antrags ist wörtlich abgedruckt in der „Nat.-Ztg.“
Nr. 177 v. 18. 6. 74.