— 179 —
Wohnsitz Zoblitz erfuhr, sagte ich zu einem Paar gerade anwesender Nachbarn:
„Delbrück geht ab.“ Man war erstaunt und fragte, weshalb? Ich antwortete,
es sei wohl möglich, daß Delbrück gegen den Verkauf der preußischen Staats-
bahnen an sich nichts einzuwenden habe, aber ich wisse aus einem Gespräch mit
ihm, daß er entschiedener Gegner des Reichseisenbahnprojekts sei; er könne und
würde also nimmermehr einen dahinzielenden Gesetzentwurf im Bundesrat und
Reichstag gegen seine bessere Ueberzeugung befürworten und durchsetzen. Wenn
nun der Reichskanzler, jedenfalls gegen die Ansicht Delbrücks, im Abgeordneten-
hause einen so entscheidenden Schritt thue, wie die Vorlegung des eingebrachten
Gesetzentwurfs, so bleibe Delbrück gar nichts anderes übrig, als abzugehen. Was
ich erwartet, trat ein, Delbrück ging.“ 1)
Scheinbar im Widerspruch mit dieser Darstellung Unruhs stehen die Be-
merkungen, welche Bismarck bei den Debatten über den erwähnten Gesetzentwurf
in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 26. April 1876 über
den Abgang Delbrücks öffentlich fallen ließ.
Der Abgeordnete Richter-Hagen hatte gleich bei Eröffnung der Diskussion
geäußert, die erste schlimme Folge des Reichseisenbahnprojekts sei der Abgang
des Ministers Delbrück. Darauf nahm Bismarck das Wort und erklärte, die
Annahme des Abgeordneten Richter sei irrtümlich. Es sei zwischen dem Minister
Delbrück und ihm auch nicht ein Schatten von einer Meinungsvberschiedenheit
über irgend eine der schwebenden Fragen zu Tage getreten.
„Gewiß wird sich schwerlich jemand beikommen lassen,“ bemerkt hierzu
v. Unruh, „den Fürsten Bismarck der Lüge zu zeihen. Wenn man aber aus dem
Munde des Ministers Delbrück weiß, daß er ein entschiedener Gegner des Reichs-
eisenbahnprojekts ist, so springt anscheinend ein Widerspruch zwischen dieser That-
sache und der Rede des Fürsten Bismarck in die Augen, der sich kaum anders
auflösen läßt als dadurch, daß man bei dieser Rede die unzweifelhaft wahren
1) Schon beinahe zur Legende ist folgende Darstellung geworden: „Delbrück hatte
dem Reichskanzler gegenüber geäußert, er habe große Bedenken gegen das Maybachsche
Reichseisenbahnprojekt, welches sich auf ein Monopol zuspitze. Der Fürst nahm das mit
Lächeln entgegen, indem er bemerkte: „Nun ja, das kann ich mir denken; — aber Sie
können sich vollständig beruhigen, die Sache fällt ja nicht in Ihr Ressort.“ Delbrück ging
nach Hause, speiste mit seiner Gemahlin — er war damals erst kurze Zeit verheiratet —
in bester Laune zu Mittag, und dann sagte er: „Mein liebes Kind, nun wollen wir gehen
und uns eine Wohnung aussuchen.“ „Wozu?“ meinte Frau Delbrück, „wir haben ja unsere
Dienstwohnung." Delbrück erwiderte, gerade diese wolle er verlassen. Am andern Tage
war die Wohnung gemietet und Delbrück hatte seinen Abschied in der Tasche.“ Diese
Darstellung ist von Anfang bis zu Ende aus der Luft gegriffen. Eine Sprache wie die
mitgeteilte führte Bismarck nicht einem Kollegen gegenüber, den an sich zu fesseln sein
hauptsächlichstes Bestreben war; und außerdem gehörte das Reichseisenbahnprojekt aller-
dings in das Ressort Delbrücks bezw. des Reichskanzler-Amts, woselbst es — das Reichs-
schatzamt war damals noch nicht errichtet — in Gemeinschaft mit den preußischen Ressort-
ministern bearbeitet wurde.