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vor dem Richterstande der Praxis aber nicht Stich halten können. Der Kanzler
hat allerdings als solcher dem Reichstag gegenüber keine Initiative. Die
an denselben gelangenden Vorschläge gehen von den verbündeten Regierungen und
von dem Bundesrat aus. Aber eben hier hat der Reichskanzler die aus—
gedehnteste Initiative, einmal durch Stellung der sogenannten Präsidialanträge,
und dann, wenn und solange er gleichzeitig preußischer Ministerpräsident ist,
durch Herbeiführung von Anträgen Preußens im Bundesrat. So beruht, um
nur ein einziges Beispiel anzuführen, die ganze Zolltarifreform auf der Initiative
Bismarcks. Von einer Initiative des Bundesrats selbst kann man überhaupt
nur in ganz seltenen Fällen reden. Von Haus aus ist der Bundesrat eine
iners moles, die sich immer schieben läßt, heute vom Präsidium respektive
Reichskanzler, morgen von einzelnen Bundesstaaten, übermorgen vom Reichstag.
Aus dem Schoße des Bundesrats selbst kommen verhältnismäßig nur wenige
Anregungen, und auch hier nur ausgehend von Ausschüssen des Bundesrats
oder von Kommissionen, die derselbe niedergesetzt hat.
In den ersten Tagen des Januar 1877 gab der Bundesrat seinem ersten
Vorsitzenden ein Zeichen der Aufmerksamkeit. Der ehemalige Präsident des
Reichskanzler-Amts, Staatsminister Delbrück wurde mit einem prachtvollen
Album erfreut, das ihm die Mitglieder des Bundesrats mit ihren Photographien
überreichten. Eine Deputation, bestehend aus dem bayerischen Gesandten Frei-
herrn Pergler v. Perglas, dem württembergischen Gesandten Freiherrn v. Spitzem-
berg, dem hanseatischen Ministeresidenten Dr. Krüger und dem Staatssekretär
Dr. Friedberg, überbrachte die wertvolle Gabe als eine dankbare Erinnerung an
die großen Verdienste, die sich Dr. Delbrück während seiner neunjährigen Lei-
tung der Verhandlungen des Bundesrats erworben hatte.
In diese Session fallen neue Reichstagswahlen (Januar 1877). Das
Ergebnis derselben hatte in der Gesamtstärke der Parteien, welche einerseits die
Reichspolitik unterstützten, andererseits dieselbe bekämpften, keine tiefgreifende
Veränderung herbeigeführt. Die Zahlenstärke derjenigen Partein, welche im
allgemeinen die Regierung zu unterstützen bereit sind, der konservativen und
der nationalliberalen Partei, war in ihrer Gesamtheit fast dieselbe wie bisher
geblieben, nur innerhalb derselben hatte eine Verschiebung der Zahlenverhältnisse
stattgefunden: während die Konservativen von 22 auf 38, die freikonservativ-
deutsche Reichspartei von 36 auf 40, mithin die konservativen Parteigruppen
im ganzen von 58 auf 78 Stimmen gewachsen waren, war die national-
liberale Partei mit den ihr verwandten Gruppen etwa um ebensoviel, von 170
auf 146 herabgegangen. Die beiden Parteien vereinigt, gewährten der Re-
gierung für die wesentlichsten Reichsinteressen auch ferner eine zuverlässige
Mehrheit von 45 bis 50 Stimmen gegenüber allen übrigen Parteien. Die