I. Buch. " Auswärtige Politik. 43
Dienstzeit bezeichnet einen so hohen Grad des Rüstungsfiebers, daß sie vielleicht die Rück-
kehr zu normaler Temperatur einleiten wird. Wenn die Durchführung der dreijährigen
Dienstzeit die Einkommensteuer nach sich ziehen sollte, so würde auch das zur Ernüch-
terung beitragen.
Bie dahin steht Frankreich gegen uns. Wiewohl es bemüht ist, militärisch den Nach-
teil auszugleichen, in den es durch seine geringere Bevölkerungszahl uns gegenüber ver-
setzt ist, hat es doch nicht mehr das alte Zutrauen allein in die eigene Kraft. Die fran-
zösische Politik sucht durch Bündnisse und Freundschaften ein Gleichgewicht oder womög-
lich ein Ubergewicht gegen den deutschen Nachbarn zu gewinnen. Frankreich hat sich zu
diesem Zweck eines Teiles der eigenen freien Initiative begeben müssen und ist abhängiger
als früher von fremden Mächten geworden. Has ist den Franzosen natürlich bekannt
und bewußt. Daß der reizbare französische Nationalstolz sich mit dieser Tatsache abfindet,
zeigt, welches der alles beherrschende nationale Wunsch des französischen Volkes ist. Es ist
kaum eine internationale Konstellation denkbar, die Frankreich veranlassen könnte, seine von
der Erinnerung an 1870 inspirierte Politik einer grundsätzlichen Korrektur zu unterziehen.
Als wenige Tage nach dem Krüger-Telegramm wie in ganz Europa auch in Frank-
reich die Wogen der Burenbegeisterung hoch gingen, fragte ein englischer Minister nicht
ohne Besorgnis einen französischen Diplomaten, ob Frankreich sich nicht versucht sehen
könnte, an Deutschlands Seite zu treten. Die Antwort des Franzosen lautete: „Seien
Sie überzeugt, daß, solange Elsaß-Lothringen deutsch ist, das französische Volk, was sich
auch sonst ereignen möge, in Deutschland den permanenten, in jeder anderen Macht
nur den akzidentiellen Gegner sehen wird.“
Faschoda. Wie wenig den Franzosen Erfolge und Mißerfolge in der weiteren
— Welt neben dem Verlust an der europäischen Stellung Frankreichs
bedeuten, zeigte auch der Verlauf und die Wirkung des Faschoda-Streites. Frank-
reich erlitt in diesem Streit gegenüber England eine unleugbare Niederlage, die auch
sehr schmerzlich empfunden wurde. Faschoda bedeutete für Frankreich das Ende eines
alten und stolzen kolonialpolitischen Traumes und ließ die französische Nation die britische
überlegene Macht unerbittlich fühlen. Einen Augenblick brauste in Frankreich die öffent-
liche Meinung elementar auf und wandte sich jäh gegen England. Die große Masse der-
jenigen, die in der Politik das Bergängliche nicht vom Dauernden zu scheiden vermögen,
den rauschenden Lärm des Aktuellen für den wahren Widerhall des Bedeutsamen nehmen,
glaubte die Wendung der französischen Politik gekommen. ODie Verstimmung gegen
England sollte Frankreich an die Seite Deutschlands drängen, die Enttäuschung über
den Mißerfolg im Sudan die Erbitterung über den Verlust Elsaß-Lothringens paraly-
sieren, eine frische Hoffnung auf Vergeltung für Faschoda an die Stelle der alten auf
NKevanche für Metz und Sedan treten. Grundsätzlicher als durch solche Kombinationen
konnte das Wesen der französischen Politik nicht verkannt werden. Ein Volk, das sich
ein Menschenalter in eine Hoffnung, ein Ideal eingelebt hat, läßt sich nicht durch ein
seitab vom großen Wege betroffenes Mißgeschick aus dem Geleis werfen. Der Haß
gegen Deutschland konnte durch eine Verstimmung gegen England nicht berührt,
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